Krieg in Europa

Der EG-Militäreinsatz gegen Serbien ist unvermeidlich, aber schlecht. Das 20.Jahrhundert, eine Katastrophe in fünf Akten  ■ Von Agnes Heller

Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs konnte sich Europa ein halbes Jahrhundert lang im Frieden sonnen. Während das Gespenst eines Atomkriegs umging, das einige politische Interessengruppen schrecklicher schilderten, als es tatsächlich war, gewöhnten sich die Menschen in Europa an den Frieden. Überall gab es Kriege, nur in Europa nicht.

Doch unterschieden sich die politischen Rahmenbedingungen für diesen Frieden in Osteuropa grundsätzlich von denen in Westeuropa. Im Westen wurden schließlich auch auf der Iberischen Halbinsel die Friedensbedingungen von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung des jeweiligen Staates angenommen. Es handelte sich um die folgenden: politische Demokratie, Anerkennung der bestehenden Grenzen und ihre gleichzeitige Wiederbelebung durch wirtschaftliche, kulturelle und politische Hilfe und Zusammenarbeit. Anders dagegen im Osten, wo die Sowjetunion als die Hegemonialmacht der gesamten Region mit ihrer totalitären Struktur und ihrem militärischen Potential den kleineren Staaten direkt oder indirekt den Frieden auferlegte. Jugoslawien, wo man fürchten mußte, dem hungrigen Bären einen Vorwand zum Einmarsch zu liefern, wurde der Frieden indirekt auferlegt; die übrigen wurden seiner auf direktem Wege teilhaftig.

Für Osteuropa ist die Abwesenheit von oder das Defizit an Souveränität eher der Normalfall. Die politische Landkarte dieser Weltgegend wurde während der gesamten Neuzeit und bis zu diesem Augenblick von großen Hegemonialmächten gezeichnet. Im 19.Jahrhundert wurde die Region vom Russischen, vom Osmanischen und vom Habsburger Reich beherrscht; das war der erste Akt des Dramas. Seit den dreißiger Jahren gab Nazi-Deutschland den Ton an. Das führte zum dritten Akt, dem Zeitalter des Krieges. Die sowjetische Herrschaft brachte Akt vier.

Für den zweiten Teil des Dramas tragen bestimmte Westmächte die Verantwortung. Der Frieden von Versailles und Trianon wurde von Wilson und Clemenceau ausgetüftelt. Obwohl das Selbstbestimmungsrecht der Völker verkündet wurde, konnte es nicht vollständig ausgeübt werden. Launen bestimmten den neuen Verlauf der Grenzen in Europa. Nach Jahrzehnten gemeinsamer demokratischer Geschichte und insbesondere seit die Idee der europäischen Einheit auftauchte, verschwand der unvorteilhafte Friede von Versailles aus dem politischen Denken Westeuropas.

Anders in Osteuropa, und das aus den verschiedensten Gründen. Die politische Landkarte Osteuropas änderte sich weit radikaler als die Westeuropas nach den Napoleonischen Kriegen. Vollkommen neue Staaten wurden ins Leben gerufen; bestehende ohne viel Federlesens geteilt. Später wurden Grenzen von Ost nach West oder von West nach Ost verschoben. Hier konnte sich keine rückwirkende Legitimation entwickeln; so etwas braucht Souveränität, Freiheit und Zeit. Sämtliche nationalen und regionalen Konflikte wurden unter den Teppich gekehrt. In dieser Hinsicht erstarrte die Geschichte. Nach dem vierten Akt blieb für beinahe 50 Jahre ein Vorhang vorgezogen. Erst jetzt kann der fünfte Akt des Dramas zur Aufführung gelangen.

Das letzte Reich in Europa, das russisch-sowjetische, befindet sich in Auflösung. Und mit einer beinahe hundertjährigen Verzögerung erreicht auch die Auflösung des Osmanischen und des Habsburger Reiches ihr Ende. Nach dem Hinscheiden des Habsburger Reiches waren die nord- und südslawischen Staaten experimentelle Einheiten, und wie noch in jedem Fall eines politischen Experiments erweist sich auch hier das Prinzip von trial and error als das einzig demokratische.

Es gibt keine Grenzen, die heilig wären. Hätten diese neugebildeten politischen Einheiten (Jugoslawien und die Tschechoslowakei) eine rückwirkende Legitimation erlangt, der Versuch hätte nicht in einer Katastrophe enden müssen. In Jugoslawien ist genau diese Katastrophe eingetreten. Der fünfte Akt des Dramas wurde zum abschließenden Akt einer klassischen Tragödie; er wurde mit Blut geschrieben. Und wie in allen Tragödien waren es Irrtümer und Verbrechen, die die Ereignisse zum tödlichen Ausgang trieben.

Jeder weiß, daß es schwierig ist, einen Krieg zu beenden; leichter wäre es gewesen, ihn zu verhindern. Ist der Krieg erst einmal in Gang gekommen, lassen sich politisch motivierte Verbrechen nur mehr dann aufhalten, der Krieg nur mehr dann beenden, wenn die Bevölkerung jener Länder aufsteht, wo die Hauptverbrecher das Schauspiel dirigieren. Doch kann jeder engagierte und aktive Außenseiter mit einer gewissen Macht verhindern, daß weitere Fehler begangen werden. Und wie alle Kriege (und alle Tragödien) beweisen, leben verbrecherische Handlungen allein von Irrtümern.

Es ist sehr unwahrscheinlich, daß die weitere Eskalation des Krieges ohne einen wie auch immer organisierten Militäreinsatz eines gemeinsamen Europas gegen Serbien und Montenegro verhindert werden kann. Das wäre keine gute Lösung, ein problematischer Präzedenzfall, einem langwierigen Krieg jedoch vorzuziehen. Doch sollte in dieser unbeständigen Region alle Aufmerksamkeit darauf gerichtet werden, daß nicht noch mehr Fehler geschehen, oder jedenfalls nicht so viele Fehler, die Kriminelle ermutigen könnten. Ein paar dieser Fehler sind bereits erkannt worden.

Die Hauptfehlerquelle liefert die Ansicht, daß sich ein Konflikt, der in Osteuropa entsteht, mit den gleichen Mitteln lösen lasse wie bei einem vergleichbaren im Westen. Analoges Denken ist schlecht und ein schlechter Ratgeber. Wie schon gesagt sind die Grenzen in Osteuropa nicht heilig; auch Präzedenzfälle nicht. Der Versuch, Großjugoslawien so lange zusammenzuhalten, war ein gewaltiger Fehler, für den viele Westmächte die Verantwortung tragen. Man darf einfach nicht vergessen, daß manche Länder Osteuropas (noch) keine Demokratie haben, andere bisher nur über eine sehr geringe demokratische Erfahrung verfügen.

Beispielsweise wäre es in Westeuropa überflüssig, Gesetze zum Schutz der kollektiven Rechte von ethnischen Minderheiten zu erlassen — was aber in Osteuropa von großer Bedeutung ist, wo das Selbstbestimmungsrecht nationaler Minderheiten oder ihre kulturelle und verwaltungstechnische Autonomie keineswegs garantiert sind, zumal nicht einmal anerkannt wird, daß sie einen begründeten Anspruch auf diese Rechte besitzen.

Ein weiteres Beispiel: Wenn die Europäische Gemeinschaft die Situation der ungarischen Minderheiten im Auge, ihr Streben nach Autonomie auf der politischen Tagesordnung behielte, wäre das eine Geste, die ihren demokratischen und liberalen Wertvorstellungen entspräche. Zugleich wäre das ein kluger Schachzug, der verhindern könnte, daß es zu einer weiteren Katastrophe kommt.

Wie sich der fünfte Akt im Drama der Staatenbildung in Osteuropa entwickeln wird, läßt sich nicht vorhersehen. Man kann nur hoffen, daß man aus der Vergangenheit etwas gelernt hat und daß am Ende unseres ohnehin katastrophalen Jahrhunderts in Europa kein neuer Krieg ausbricht.

Bei einer friedlichen Entwicklung können wir mit dem Entstehen vieler kleiner Staaten rechnen, unter denen es einige wenige Nationalstaaten geben wird. In Zeiten europäischer Vereinigung muß die Kleinheit eines Staates kein Hindernis bedeuten; in einer Welt, die sich „postmodern“ nennt, kann die Pluralität von Völkern und Kulturen sogar ein Vorteil sein. Jedoch wird auf die eine oder andere Weise die Auflösung der letzten drei Reiche in Europa schließlich ihr Ende erreichen. Die Menschen in Osteuropa können dann ein neues Drama mit einem völlig neuen ersten Akt beginnen.

Aus dem Englischen von Willi Winkler.