Es lebe der Stammtisch!

„Oskar, der Absahner“, und „Möllemann, der Gernegroß“ sind schuld. Ich spreche von der Parteiverdrossenheit, dieser Mär eines ewig währenden Vor-Sommer-Loches. In der Tat, 40 Prozent unserer wahlberechtigten Mitmenschen gehen nicht mehr wählen und lassen andere für sie mitbestimmen, weil sie angeblich parteiverdrossen sind. Nun ja, wer die berüchtigten Augstein-Thesen im Spiegel oder die wenigen Monopol-Tageszeitungen liest, macht lieber den Fernseher an, als zur Parteiversammlung zu gehen. Es scheint tatsächlich herrschender Zeitgeist zu sein, Engagement und Aktivität in den Fernsehsessel zu verlegen, dort ordentlich zu schimpfen und sich anschließend als Betthupferl die Kommentare unserer konservativ/liberalen Presse einzuverleiben. Die Genugtuung, so auf jeden Fall zu einer Mehrheit zu gehören, ist vermutlich unbezahlbar. Sich nicht engagieren, nicht wählen, seinen Kindern und Kindeskindern Passivität und Gleichgültigkeit vorleben ist allseits respektiertes und wohlanständiges Mehrheitsverhalten. Dies haben auch die den Alt-Politikverdrossenen nachfolgenden Teens und Twens begriffen. Die Schüler-Juso-AG oder die Dritte-Welt-Gruppe — zu meiner Zeit noch das absolute Muß für die aufgeklärte Welt-Jungbürgerin — sind mehr als mega-out. Lebende Politik bei der Jugend inklusive Demo-Plakate-Entwerfen als Unterrichtsfach gibt es derzeit vorwiegend in Form von Lehrer-Protesten gegen die NRW-Schulreform. Aus dem Sessel und zu ungeahnter Aktivität treibt die Über-30jährigen immerhin gelegentlich der 30-km- Beruhigungs-Hügel auf der Fahrbahn vor dem Häusle, die Initiative „Müllverbrennung bitte in der Nachbargemeinde“, ein „Runder Tisch“ gegen und für Diverses sowie die eine oder andere „Von-der-Hand-in- den-Mund“-Unterschriftensammlung.

[...] Eine andere Modeerscheinung ist, die leider auch von Partei- Promis beliebäugelte, angebliche BürgerInnenbeteiligung per Volksabstimmung und Spitzenpositionen- Direktwahl zu propagieren. Welch entsetzliche Vorstellung! Ich sage, dies ist populistisches Herbeigerede von Bauchpolitik. Wo sollen denn die durchsetzungsstarken und ehrlichen PolitikerInnen herkommen, wenn das Wahlvolk nur noch die wählt, die am schönsten reden, am attraktivsten aussehen und die tollsten Dinge versprechen? Volksabstimmungen führen zu „Asylanten raus“ und „Todesstrafe rein“. Es lebe der Stammtisch!

Doch, die Parteien sind im Kern in Ordnung und erfüllen nun schon einige Jahrzehnte lang ihren gesetzlichen Auftrag zur politischen Willensbildung. Die Parteiprogramme orientieren sich an den vielfältigen Bedürfnissen der BewohnerInnen eines demokratischen Staates, und politisch gearbeitet wird in den Parteien auch genug. Was fehlt, sind Menschen, die bei uns mitmachen. Wer etwas ändern und bewegen will — und natürlich gilt es einiges zu ändern, wenn man sich weltweite Umweltzerstörung, neue Armut nebenan und Krieg vor unserer Haustür vor Augen führt —, muß sich von der Couch erheben und uns hier ganz unten vor Ort helfen, denen oben Dampf und Druck zu machen. Es gibt überdies keine heilsamere Medizin gegen Partei- und Politikmüdigkeit, gegen Fernsehsucht und Psychokrise, als Parteipolitik zu betreiben! Obendrein macht — Hand aufs Herz — Politik auch noch Spaß und ist nicht der unangenehmste Freizeitvertreib. Wahrlich fatale Folge solcher Hinwendung zum realen Leben wäre, das leuchtet mir ein, daß partei- und politikaktive Menschen mangels Zeit weniger TV, weniger Werbung und weniger Serienverdummung konsumieren und somit rezessionsbeschleunigend wirken würden. Dies wäre eine Erklärung für das Interesse der Medien, den Verdrossenheitseintopf bräunlich auf- und überkochen zu lassen und die republikanische Überschwemmung in unseren Parlamenten in Kauf zu nehmen.

Ich stehe übrigens weiter hinter Oskar! Ruhegeld hin, Toskana her, kaum jemand sonst lebt Politik so überzeugend und so voller Lebendigkeit. Der Neid ist mit den Langweilern und Einfallslosen, findet Sabine Räfle-Leidenfrost, SPD-

Kreistagsabgeordnete und Orts

vereinsvorsitzende, Greven

broich, 36 Jahre alt und schon

17 Jahre parteiunverdrossen