Schamlos-betr.: Gesundheitsreform, taz vom 12.8.92

betr.: Gesundheitsreform,

taz vom 12.8.92

Bei der Darstellung der Seehoferschen Gesundheitsreform gerät m.E. völlig aus dem Blickfeld, daß es sich hierbei nicht um eine Reform des Gesundheitswesens handelt (dazu wären ganz andere Schritte erforderlich), sondern um eine weitere Aufweichung des Solidarprinzips — oder, besser gesagt, Kostenteilungsprinzips zwischen Gesunden und Kranken sowie denen, die viele krank machen: den Arbeitgebern. Schon die Begründung der Reform mit einer „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen muß stutzig machen, insbesondere diejenigen, die Gesundheitssysteme von Drittweltländern kennen und immer dachten, hohe Ausgaben für den Bereich Gesundheit seien ein „Aushängeschild“ und eine „Leistungsbilanz“ für eine industriell entwickelte Gesellschaft. Doch zunächst einige die Tatsachen erhellende Daten:

1. Der Anteil der Gesundheitskosten am Bruttosozialprodukt (und so werden Gesundheitskosten weltweit gemessen) beträgt in der BRD seit 1975 konstant 8,2%.

2. Mit diesem Anteil unterscheidet sich die BRD nur wenig von anderen vergleichbar entwickelten Ländern und liegt mitnichten etwa an erster Stelle in der Welt. Vor der BRD rangieren z.B.

— USA mit 11,8% (privatwirtschaftlich organisiertes Gesundheitssystem)

— Schweden mit 8,8%

— Kanada mit 8,7%

Auch die Beitragssätze der Gesetzlichen Krankenversicherungen sind in den letzten 20 Jahren keineswegs explodiert, sondern von 1972 bis 1992 lediglich von 10,5 auf 12,5% im Durchschnitt gestiegen. Die Ursachen hierfür sind nicht in der Pillensucht von Scheinkranken zu suchen, sondern liegen darin begründet, daß

1. den gesetzlichen Krankenkassen durch Gesetz und Rechtsprechung in den letzten Jahren eine Fülle neuer Aufgaben übertragen wurden (z.B. Vorsorgeuntersuchungen)

2. trotz des Anstiegs der Quote der abhängig Beschäftigten von 1960 bis 1989 von 77% auf 89% der Anteil der Arbeitseinkommen am Sozialprodukt gesunken ist: von 77% auf 67%!

Löhne und Gehälter aber sind die Finanzierungsgrundlagen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Bezieht man/frau das jährliche Aufkommen der GKV aufs Bruttosozialprodukt, so wird deutlich, daß der Anteil der GKV sogar nicht nur nicht gestiegen ist, sondern 1989 die Werte von Mitte der 70er Jahre noch unterschritten hat:

Ausgaben der GKV in Prozentanteil des BSP

197075808589

3,75,85,96,15,6

Das heißt, die Beitragssätze steigen überhaupt nur deshalb, weil Löhne und Gehälter mit dem Wirtschaftswachstum nicht Schritt gehalten haben. Die Früchte eines der reichsten Länder der Welt werden nämlich immer ungerechter verteilt. In diese Richtung zielt auch das Gesetz von Herrn Seehofer. Zwar bittet er auch die gut verdienenden Anbieter von Gesundheitsgütern (Ärzte, Pharmaindustrie, Apotheker) zeitlich befristet zur Kasse, treffen wird das neue Gesetz aber vor allem die Kranken. Und wer das ist, ist in zahllosen Untersuchungen der letzten Jahrzehnte nachzulesen, denn auch Krankheit ist hierzulande nicht gleich verteilt: Von Krankheit betroffen sind vor allem diejenigen Bevölkerungsgruppen, die wirtschaftlich und sozial ohnehin schon in jeder Hinsicht benachteiligt sind: alte Menschen, Frauen, ImmigrantInnen, Arbeitslose, SozialhilfeempfängerInnen, ArbeiterInnen und Angestellte mit geringem Einkommen, in zunehmendem Maße auch Kinder. Das Gesundheitsreformgesetz ist mithin kein Gesetz, das zum Ziel hat, Kranke schneller als bisher wieder gesund zu machen (z.B. durch eine effektivere Einsetzung der Mittel im Gesundheitswesen) oder bei Gesunden dafür zu sorgen, daß sie gar nicht erst krank werden (z.B. durch eine menschenfreundliche Gestaltung erwiesenermaßen krankmachender Arbeitsplätze); es ist ein Gesetz zur Stabilisierung bzw. Senkung der Lohnnebenkosten: Durch die Umverteilung der Kosten von den Krankenkassen auf die Kranken können die Beitragssätze, die zu 50% von den Arbeitgebern gezahlt werden, zumindest auf dem heutigen Stand gehalten werden. Daß dies nicht im Sinne der Versicherten ist, wie eine Umfrage kürzlich ergeben hat (Versicherte wären sehr wohl bereit, im Interesse ihrer Gesundheit höhere Krankenkassenbeiträge zu zahlen), ficht Herrn Seehofer nicht an. Durch sein Gesetz schafft er abermals denjenigen Vorteile, die in den letzten zehn Jahren überproportional vom Wirtschaftswachstum profitiert haben: Veränderung der durchschnittlichen Arbeitseinkommen pro Kopf von 1980 bis 1989: - 1%; Veränderung der gesamtwirtschaftlichen Einkommen (ohne Staat) aus Unternehmertätigkeit und Vermögen im gleichen Zeitraum: + 103%.

Überhaupt fällt bei einer Auseinandersetzung mit dem Thema „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen auf, daß Zuwächse von Politikern vor allem dann wahrgenommen werden, wenn ganz bestimmte Bevölkerungsgruppen sie verursachen, diejenigen, die ohnehin benachteiligt sind. Das ist in anderen Ländern ebenso. In den USA werden zum Beispiel Kindern von Sozialhilfeempfängern Organtransplantationen verweigert, in Großbritannien wird alten Menschen (wobei „alt“ je nach Wohlstandsniveau einer Region unterschiedlich definiert wird: in armen Regionen ab 45 Jahre, in reichen Regionen ab 75 Jahre) die Dialyse verweigert (nachdem die Geräte zuvor auf staatliche Anordnung künstlich verknappt worden sind). Dies scheint mir im Prinzip auch die Zielrichtung der Seehoferschen Gesundheits„reform“ zu sein. Sie ist eine Umverteilungsreform von unten nach oben, wobei die Einbeziehung der Anbieter im Gesundheitswesen diese Tatsache eher verschleiert als mildert.

Daß ausgerechnet ein Politiker das Wort „Kostenexplosion“ in den Mund zu nehmen wagt, ist sonderbar genug. Denn eines ist sicher: Explosionen hat es in der Tat gegeben, bei der Entwicklung der Politikerdiäten z.B. und deren Versorgungsansprüchen, von denen arbeitsplatzgeschädigte NormalbürgerInnen (die oft jahrelang um ihre Kleinstrenten prozessieren müssen) mit Recht nicht einmal zu träumen wagen. Insofern ist die Gesundheitsgesetzgebung von Herrn Seehofer auch nur mit einem Begriff hinreichend zu charakterisieren: schamlos Gloria Bornkamp-Baake,

Göttingen

Gegen die schleichende Verdrehung der Sprache: Die „Selbst-“ oder „Eigenbeteiligung“ ist immer noch eine „Zusatz“beteiligung der Krankgewordenen am Gesundheitssystem. Dr.med.Helmut Schaaf, Köln

Statt dauernd auf Kosten der Bevölkerung Geld einzusparen, sollten sich Herr Seehofer und seine Genossen mal Gedanken darüber machen, wo man denn eventuell sonst noch Einsparungen im Haushalt machen könnte. Wie wäre es denn zum Beispiel, wenn einmal alle Politiker für ein Jahr auf ein Drittel ihrer Einkommen verzichten würden? Oder wenn man die erhofften 11,4 Milliarden beim Verteidigungshaushalt statt bei den Bürgern einspart.

Die einzigen, die davon betroffen werden, sind ja mal wieder die Arbeitnehmer, denn die Leute, die genügend Geld zur Verfügung haben, sind sowieso privat krankenversichert und werden dadurch also nicht belastet. Und bei denen, die von der Sozialhilfe leben, handelt es sich lediglich um eine Umverschuldung von der Krankenkasse zum Sozialamt. Da bleibt dann nur noch die Frage, warum man überhaupt noch arbeiten geht, da man dafür zur Zeit ja doch andauernd „bestraft“ wird von unseren sogenannten Volksvertretern.

Vielleicht sollten sich die großen Herren einmal überlegen, ob man denn nicht den Ursachen für die immer größer werdenden Krankenkosten zuerst einmal zu Leibe rücken sollte. Als da wären: Umweltverschmutzung, Streß, Arbeitslosigkeit usw. Denn von ungefähr kommen die ansteigenden Krankenzahlen ja wohl kaum. Und bei weniger Kranken braucht man auch weniger Medikamente und Krankenhausbetten, womit sich eine Einsparung ganz von selbst ergibt. Doch vielleicht geht es ja gar nicht so sehr um die genannten Einsparungen als vielmehr darum, den Arbeitern die Krankheit finanziell unerreichbar zu machen, um somit das Bruttosozialprodukt zu steigern. Horst Helsper, Hagen