: Nicht nur Jungs verkloppen lernen
■ Unterricht in Selbstverteidigung soll an Berliner Schulen eingeführt werden/ Lernziel ist vor allem die psychologische Abwehr von Gewalt/ Konzept soll bis Ende 1992 vorliegen
Berlin. Schülerinnen und Schüler sollen bald in einer völlig neuen Disziplin unterrichtet werden: in Selbstverteidigung. Darüber haben sich Frauensenatorin Christine Bergmann (SPD) und Schulsenator Jürgen Klemann (CDU) letzte Woche geeinigt. Bis Ende 1992 wollen beide Verwaltungen ein gemeinsames Konzept vorlegen.
Nicht nur sportliche Verteidigungstechniken, sondern auch die psychologisch richtige Reaktion auf Angriffe soll in dem neuen Fach gelehrt werden: »Das werden auch Selbsterfahrungskurse, es geht vor allem darum, sich gedanklich mit dem Problem der Gewalt auseinanderzusetzen«, sagt Michael Beer, persönlicher Referent des Schulsenators. »Die Mädchen sollen nicht lernen, wie man Jungs verkloppt, sondern wie man ihnen selbstbewußt gegenübertritt«, meint auch die zuständige Referentin in der Senatsverwaltung für Arbeit und Frauen, Karin Bergdoll.
Strittig ist jedoch noch, ob Mädchen und Jungen denselben Unterricht erhalten sollen. Für Karin Bergdoll ist das Hauptproblem die Gewalt von Jungen gegen Mädchen. Ihrer Meinung nach sollen nur Schülerinnen lernen, wie man sich physisch verteidigt, während für Schüler ein psychologisches »Anti-Gewalt-Training« vorgesehen ist. »Die Mädchen müssen lernen, selbstbewußter zu werden und entgegen ihrer weiblichen Sozialisation entschlossen Nein! zur Gewalt zu sagen«, erklärt Bergdoll. Umfragen hätten ergeben, daß viele Schülerinnen sich von Mitschülern bedroht fühlten. »Und in der Schule ist das schlimmer als an anderen öffentlichen Orten, weil man da nicht ausweichen kann.«
Einen geschlechtsspezifischen Unterricht lehnt die Senatsverwaltung für Schule jedoch ab. »Das würde nur Feindbilder aufbauen«, meint Michael Beer. Er plädiert dafür, beide Geschlechter zusammen über Gewalt diskutieren zu lassen und Jungen ebenso wie Mädchen beizubringen, sich physisch gegen Angreifer zu wehren.
Die Gewaltbereitschaft von Kindern und Jugendlichen wird nach einer Polizeistatistik in Berlin immer größer. Fünf Prozent aller Tatverdächtigen waren hier 1991 unter vierzehn Jahren alt, eines der häufigsten Delikte war Körperverletzung. Der Schulsenat habe Bedenken, daß Unterricht in Selbstverteidigung die Schüler eher noch rabiater machen könnte, sagt Beer.
Eins steht immerhin fest: Selbstverteidigung wird kein eigenes Schulfach sein. Der Unterricht soll auf Sport und Fächer wie Deutsch oder Politische Weltkunde verteilt werden. »Man könnte aber auch AGs am Nachmittag einrichten, an denen die Teilnahme freiwillig ist«, meint Michael Beer. Obwohl im Moment geeignete Ausbilder fehlten, könnte man solche Kurse sogar im laufenden Schuljahr einrichten. mh
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