Mit nacktem Enthusiasmus

Erotisches Theater in Moskau  ■ Von Barbara Kerneck

Aljona ist auf der Bühne immer ein wenig erotischer, als das Programm es vorschreibt — einfach aus Ehrlichkeit, meint sie: „Ich glaube, daß ein Theater der entkleideten Körper der Wahrheit näher liegt, denn hier steigt die Erotik, die bei aller theatralischen Kunst zwischen den Zeilen schwingt, an die Oberfläche. Und auch für den Schauspieler ist es eine Möglichkeit, sich von Heuchelei zu befreien.“ Das filigranhafte Frauchen mit dem spitzen Aubrey-Beardsley-Kinn und den dunklen Haarschlangen ist der Star des Moskauer „Erotischen Theaters“, ein bißchen Medea, ein bißchen Medusa und ein bißchen Megäre, wenn sie über die Bühne der kleinen Filiale des Majakowski-Theaters in der Altstadt wirbelt oder durch ihre lüsternen Umarmungen einen Stuhl zum schmelzen bringt. Die Musik — in diesesm Falle New Age reinsten Wassers — setzt donnernd ein, wohl um die Zoten aus dem bis zum letzten Stuhl besetzten Saal zu übertönen. Ein antikes Spektakel beginnt, in dessen Verlauf Aljona und zwei blonde Jungfrauen im späten David-Hamilton-Alter sich sehr allmählich allerhand klassischer Faltenwürfe entledigen. Sie umwerben einen eher statischen Bubi, der nur hin und wieder bei ihrer Entkleidung lässig Hand anlegt. „Recht so“, pflichtet ein Zuschauer bei, als der Knabe eine der Jungfrauen in die Ecke schleudert, und ein anderer regt sich auf: „Der ist für uns alle eine Schande.“

Nun ist das Publikum gezähmt. Überhaupt ähneln die Leute — zwei Drittel Männer und ein Drittel Frauen, meist im mittleren Alter, verarbeitet, versorgt und grau gekleidet — eher den Teilnehmern einer Butterfahrt mit Streuselkuchen als mondänen Kennern des Nachtlebens. Nach der Pause gibt es einen wüstes Potpourri aus Beatles, Carmen und Kalinka. Auch wenn Bubi zugeknöpft bleibt, werden allerhand geschlechtliche Beiwohnungen angedeutet, darunter eine zwischen den beiden Jungfrauen. Bald besinnen sie sich allerdings wieder auf das männliche Wesen und umwickeln es mit langen Schals. Man möchte schon hoffen, daß sie den Knaben endlich erwürgen, doch vor den Konsequenzen des eigenen Tuns schaudert ihnen. Aljona wühlt inzwischen mit einem bösen kleinen Lächeln in den auf dem Fußboden zurückgebliebenen Schleiern. Die Darsteller balancieren auf dem haaresbreiten Grad zwischen laienhafter Banalität und magischem Theater, und als die dunkle Rachegöttin endlich, endlich auch die letzte Hülle fallen läßt, bildet ihr reduziertes schwarzes Schamhaardreieck dabei das Zünglein an der Waage. Der Beifall ist rauschend. Alle verlassen den Saal in besserer Laune, als sie ihn betraten. „So etwas haben wir auch, aber unser ,Kommerzieller Direktor‘ hält es bei sich im Kabinett unter Verschluß“, zwinkert mir die Garderobiere vornehm zu. Sie spielt dabei auf Pornohefte mit nackten Männern an. Ich hatte mich zu Beginn danach erkundigt, angesichts einer polnischen Playboy-Variante, deren Exemplare an der Garderobe ausliegen für drei Rubel pro Stück — aber nur für's „angucken“, und nichts als Girls, Girls, Girls.

Warum wird hier mit männlicher Nacktheit so gegeizt? Die Argumente, die die Regisseurin Anja Bystrova mit leiser stockender Stimme hervorbringt, wirken jedenfalls nicht frauenfeindlich.

Wie das Kind zur Jungfrau

„Ein nackter Mann kommt mir immer so sehr wehrlos vor!“ erklärt sie, „und ich will doch ein männliches und ein weibliches Element auf der Bühne haben, aber ein Mann ohne Kleider...“ „Ist eher ein Kind?“ „Schlimmer, ein verwundetes Kind.“ Zwar wirkt Anjas Darsteller durch seine Angezogenheit kein Quentchen erotischer, aber dafür ist er auf der Bühne auch mit keinem Zipfel ein Lümmel. Und noch ein eher praktisches Moment führt Madame Bystrova an: „Ich will, daß von meinen Darstellern Klugheit ausstrahlt, und Männer, die sich gerne ausziehen, haben meist so einen dümmlichen Narzißmus an sich.“ Die noch junge, blasse, schlanke und übernervöse Regisseurin läßt keinen Zweifel daran, daß sie ihre künstlerischen Eingebungen „von dort“ bezieht, daß dieses „dort“ sowohl im Jenseits als auch sehr hoch liegt und von ihrem vor zwei Jahren verstorbenen Mann Alexander Demidow bewohnt wird. In Rußland verstand sich die Prüderie seit Jahrzehnten derart von selbst, daß in der Sprache nicht einmal ein entsprechender Begriff existiert. Das erotische Theater kam hierher wie das Kind zur Jungfrau, und der Ballett-Kritiker Alexander Demidow übernahm in diesem sem Falle die Rolle des Heiligen Geistes. Aus seiner ersten Truppe sind die fünf bis sechs erotischen Theater, die heute in der russischen Hauptstadt mühsam ihr Dasein fristen, auf Amöbenart durch Zellteilung entstanden — eine Vermehrungsweise, die früher den marxistischen Parteiinitiativen vorbehalten war. Anja bezeichnet Demidow als Romantiker und „Dekadenten“, womit sie meint, daß er Oscar Wilde, Maetterlinck und den russischen Jugendstil des „Welt der Kunst“-Zirkels liebte. Demidow begann mit Kammer-Stücken im wahrsten Sinne des Wortes, die er in seinem Redaktionszimmerchen einübte und in den Kulturhäusern irgendwelcher Berufsverbände oder Fabriken zeigte. Am Anfang stand vor zehn Jahren eine „Romeo und Julia“-Aufführung mit realistischen Liebesszenen.

Als ihn die Kritiker immer wieder verrissen, ging Demidow „aus Trotz“, wie seine Witwe meint, aufs Ganze und inszenierte ein Nacktstück namens „Kinderspiele“ nach einer Strauß-Polka.

Sprache, die verbirgt

„Ganz unerwartet“, so Anja, habe er da eine neue Ebene theatralischer Möglichkeiten entdeckt: „Da gibt es die Sprache, die mehr verbirgt als enthüllt, und ihr gegenüber kann der Körper Verrat üben, indem er uns eine innere Welt zeigt, die wahrzunehmen wir meist vergessen.“ Nun durfte Demidow schon im Kulturhaus eines Instituts für Textilkunde proben, und mit dem Stück „Das Mädchen“ nach Beatles-Motiven stellte sich ein Riesenerfolg ein. „Wir spielten in einem grauenhaften, weit abgelegenen Straßenbahndepot, ohne jegliche Reklame und glaubten nicht, daß irgendjemand dorthin fände“, erzählt Anja, „und dann kamen Menschenmassen, Reporter mit Blitzlichtern, offen gestanden haben wir selbst nicht ganz verstanden, was passiert war.“ Seit vier Jahren kann das Theater Geld einnehmen, und mit dem Erfolg stellten sich auch die Schmarotzer ein. Sogenannte Sponsoren, die 50Prozent des Gewinns einstrichen, Direktoren mit dem Beiwort „kommerziell“, deren Kommerzialität allemal ausreichte, um mit der Kasse zu verschwinden. Ich treffe Anja und Aljona bei den Proben, die sie täglich von elf bis sechs im Kulturhaus eines Textilinstitutes abhalten. Freundlich scheint die Sonne auf das abgewetzte Parkett und die blinden Spiegel, eine Etage tiefer werden Wagner-Chöre eingeübt. Erhalten die Schauspieler nun eine regelmäßige Gage? „Nein“, antwortet Anja, „sie arbeiten hauptsächlich aus nacktem Enthusiasmus. Mit unseren Inszenierungen klappt es nicht so recht, kaum haben wir eine fertig einstudiert, verläßt uns ein Junge, dann wieder gebiert eine Darstellerin ein Kindchen, und eine andere siedelt mit ihren Eltern in die Bundesrepublik über. In den letzten beiden Jahren haben wir sechsmal ganz von vorn angefangen. Und wenn ich am liebsten mit Laien arbeite, dann auch deshalb, weil es bei professionellen Darstellern nicht nur die Frage ist, ob sie so arbeiten wollen, sondern auch, ob sie es überhaupt könnten.“ Der ewige Konflikt zwischen der Liebe zur Kunst und der Notwendigkeit, zu verdienen läßt der kleinen Truppe keine Ruhe. Auch wenn rote Beete einen blutigen Saft abgibt, gedeiht der wahre Vamp schlecht nur auf der Basis von Knollenfrüchten. Frau Bystrova besteht darauf, nur auf richtigen Theaterbühnen zu spielen, um ihre Darstellerinnen vor dem Gefressenwerden zu bewahren. Die organisierte Nacktheit boomt plötzlich in Rußland, und ebenso schnell hat sich auch das organisierte Verbrechen ihrer bemächtigt. Die Wand, die die HauptdarstellerInnen davor bewahrt, zu Hauptopfern zu werden, ist nicht dicker als die eigene Haut. Aljona „schreibt auch ein bißchen“, bisweilen Lyrik. In der ersten Nummer der Zeitschrift Dar schildert sie ihre Erlebnisse bei zwei Gastspielreisen mit dem „Theater der romantischen Allegorien“ — einem Schwesterunternehmen.

Ekel vor dem Spagat

Im Januar 1991 strandete die Truppe in Bulgarien, im gleichen Jahr noch einmal in Jugoslawien — durch die Schuld betrügerischer Agenten — ohne Rückreisemöglichkeiten. Da wurde in Kaffees gespielt, um zu überleben — Auge in Auge mit den Zuschauern, die auf so nahe Distanz oft nicht verstehen wollten, weshalb der bedingte Handel mit dem Körper nicht auch die Genitalien einschließt. Da kämpften der professionelle Stolz der Wanderschaustellerinnen und das Pflichtgefühl gegenüber den Arbeitgebern mit der Angst vor ganz unerotischen Frauenkrankheiten beim Liegen auf eiskalten Marmorplatten und dem Ekel vor dem Spagat zwischen Stanniolpapier und Zigarettenkippen, da mußten die großkarierten Kollegentaschentücher in den Sammelgarderoben so manche Träne trocknen. Wir fragen Aljona, welche Rolle sie am liebsten spielen würde. Vorsichtig selektiert sie zwischen den verschiedenen Varianten der Ehrlichkeit, um die Antwort zu finden, die uns am meisten entgegenkommt. „Früher hatte ich viele Träume. Aber die Möglichkeiten, die sich mir bieten, sind nur wenige. Da habe ich den Kompromiß gefunden, das, was man mich tun läßt, so gut wie möglich zu tun. Wenn mich aber plötzlich der Weihnachtsmann fragte, dann würde ich mir wünschen, die Dichterin Marina Zwetajewa zu spielen.“ Aljona und ihr kluger Körper warten nicht untätig. Aber zusammen mit den russischen erotischen Theatern warten sie noch immer auf den Weihnachtsmann.