„Wir sind keine wehrlosen Krüppel“

Die niederländische Psychotherapeutin Lydia Zijdel bietet auch in Deutschland Selbstverteidigungskurse für körperlich behinderte Frauen an  ■ Von Ursula Siegers

Wo die meisten von uns die Beine untern den Arm nehmen, müssen sie sich etwas anderes einfallen lassen: Was tut eine Rollstuhlfahrerin, wenn sie das Gefühl hat, da will ihr einer an die Handtasche oder gar an den Kragen?

Sichtbar Behinderte, Rollstuhlfahrerinnen und alle, die an Krücken durchs Leben gehen, werden schon ohne Not leicht in die Rolle der hilflosen Opfer gedrängt. Auf fremde Hilfe in vielen Bereichen des täglichen Lebens angewiesen, werden sie behandelt, als ob sie keinen eigenen Willen hätten. „Warten Sie, ich schiebe Sie über den Zebrastreifen“, sagt ein freundlicher Passant und kommt sich vor wie ein Pfadfinder, der die gute Tat des Tages vollbracht hat. Der Witz von der alten Frau, die eigentlich gar nicht wollte, hat schon einen Bart. Doch behinderten Menschen passieren solche Sachen immer wieder. Lachhaft im Grunde, aber vor allem ärgerlich.

Frauen als Opfer von Gewaltverbrechen, sexuelle Mißhandlungen, verbale Attacken und Nötigungen sind in den Medien ein gängiges Thema. Frauenhäuser und Organisationen wie „Gewalt gegen Frauen“ haben fest Fuß gefaßt im sozialen Netz. Die Nachfrage bestätigt ihre Notwendigkeit Tag für Tag.

Das Problem am anderen Ende anzupacken, nämlich bei der möglichen Verhinderung von Angriffen, ist Ziel und Zweck von Selbstverteidigungskursen. Karate, Wen-Do, Aikido sind Kampfsportarten, die zunehmend auch von Frauen erlernt und geübt werden. Selbstverteidigung verbindet die Fähigkeit, körperliche Kräfte gezielt einzusetzen, mit einer geistigen Haltung, die möglichen Gegnern den Angriff schwer macht.

Was haben Behinderte und Selbstverteidigung miteinander zu tun? Sehr viel, sagt Lydia Zijdel. Die Niederländerin gilt als einzigartig auf ihrem Gebiet: Sie ist 41 Jahre alt und arbeitet als Psychotherapeutin. In einem Zentrum für Behinderte in den Niederlanden leitet sie Seminare und Begegnungswochen. Mittlerweile hat sie sich in Behindertenfragen einen Namen gemacht als Beraterin für Firmen und Institutionen. Und sie leitet ihre eigene Karateschule. Männer und Frauen, Behinderte und Nichtbehinderte werden dort von ihr im Kampfsport unterrichtet.

Das Besondere: Lydia sitzt im Rollstuhl. Meckikurze Haare, entspannte Haltung, den schwarzen Karategürtel um die Taille — Frauen als hilflose Opfer? Rollstuhlfahrerinnen als wehrlose Krüppel, angewiesen auf jedermanns Hilfe? Lydia Zijdel verkörpert das Gegenteil. Diese Art von Selbstsicherheit kann frau trainieren, sagt Lydia.

Anfang 1992 kam Zijdel nach Berlin. 30 Frauen trafen sich in der Sporthalle einer Behindertenschule, um sich von Lydia in die Kunst der Selbstverteidigung einweisen zu lassen. Schon mit wenigen Griffen kann frau sich zur Wehr setzen. „Was tust du, wenn dich ein Angreifer von hinten würgen will?“ fragt Lydia und demonstriert, wie sie sich zuerst Luft schafft und anschließend den Angreifer in die Knie zwingt.

Auch weniger gewalttätige Aktionen wie Beißen, Kratzen, Spucken und an den Haaren ziehen sind wirksame Mittel, denn, so erklärt Lydia, „wer dir ans Leben will, der muß unmißverständlich merken, daß du dich verteidigen kannst und willst““ Bluffen hingegen funktioniert selten. Die Frauen müssen ernstzunehmende Abwehrmechanismen lernen: Sie üben gewissenhaft Greifen, Stoßen, Boxen, Treten — und auch Fallen.

Die meisten der 22 Fachfrauen mit mehr oder weniger sichtbaren Behinderungen gehören dem Verein „Selbstverteidigung für Frauen e.V.“ an, der im Berliner Stadtteil Schöneberg seinen Sitz hat. Der SVF e.V. hat die Organisation des zweieinhalbtägigen Kurses übernommen und Lydia Zijdel und eine zweite Trainerin, Malousch Köhler, aus den Niederlanden eingeflogen.

Die 15 Übungseinheiten sind anspruchsvoll und verlangen den Teilnehmerinnen das letzte an Kraft ab. Das Ergebnis der Arbeit probieren die Frauen im großen Finale aus. Eine Art Spalier wird gebildet, eine Gasse, durch die jede Frau durchläuft oder fährt. Malousch bestimmt eine, zwei oder mehrere Angreiferinnen, ohne daß die anzugreifende Frau es mitbekommt.

„Na, du Krüppel, bist du schon wieder hier?“ Anke rempelt Susanne von der Seite an. Sie wird mit einer ruckartigen Drehung des Rollis aus dem Weg geräumt. Annas Angreiferinnen kommen gleich zu dritt. „Ha!“ brüllt sie ihnen entgegen und schleudert ihre Krücke gegen ein Schienbein. Trotz der Mahnung, die Trainingssituation zu bedenken und die Kampfpartnerin nicht zu verletzen, ist die Schlagkraft mancher „Waffen“ einfach beglückend wirkungsvoll. Die meisten Frauen sind entzückt ob der neuen Möglichkeiten, sich zur Wehr zu setzen. Und sie machen weiter: Die Kurse sollen nun regelmäßig stattfinden.