INTERVIEW
: „Die wollen sich spüren“

■ Eberhard Seidel-Pielen zu Gewaltbereitschaft und Rechtsextremismus

Der Publizist Eberhard Seidel-Pielen beschäftigt sich seit Jahren mit kulturellen Wertemustern und politischen Orientierungen randständiger Jugendlicher. Zusammen mit Klaus Farin veröffentlichte er „Krieg in den Städten. Jugendgangs in Deutschland“ und „Rechtsruck. Rassismus im neuen Deutschland“.

taz: Jugendliche sind zunehmend zu Gewalt bereit, unter ihnen wächst die Tendenz, sich rechtsextrem zu orientieren.

Eberhard Seidel-Pielen: Bei dieser Diskussion wird sehr viel vermischt. Ich würde unterscheiden zwischen organisierten rechtsradikalen Gruppen und Jugendgangs, die eine relativ unpolitische Weltanschauung haben. Solche Gangs sind eine Sozialisationsinstanz. Vor allem Jungs suchen sich eine Clique als Heimat- und Familienersatz. Erst in zweiter Instanz kommt eine ideologische Komponente hinzu. Das hat aber nichts mit Rechtsextremismus zu tun.

Auch wenn diese Jungs rechte Sprüche klopfen?

Auch dann nicht. Solche Jungs brüllen schon mal „Sieg Heil!“, doch ihr Weltbild ist sehr brüchig. Hauptsächlich männliche Jugendliche versuchen, ihre Umgangsformen dominant zu gestalten. Diese Dominanzkultur geht quer durch ethnische Gruppen. Man findet ähnliche Ausdrucksweisen bei türkischen, arabischen und deutschen Jugendlichen.

Ab wann bezeichnen Sie Jugendliche als rechtsextrem?

In Ostdeutschland zum Beispiel ist der Einfluß von organisierten Rechtsradikalen auf eine diffus rechts, deutsch-national und völkisch denkende Jugendszenerie zu beobachten. Diese Gruppen bringen den Jugendlichen dann auch Ideen der „Freizeitgestaltung“ nahe: wie Asylbewerber oder vietnamesische Zigarettenhändler zusammenzuschlagen. Vermittelt natürlich. Sie verbreiten eine Theorie der Ungleichheit, die latent in den Köpfen der Jugendlichen bereits existiert, aber auch bei rund einem Drittel der restlichen Bundesbürger vorhanden ist. Die verzweifelte Wendejugend ist radikalisierter als die im Westen. Wenn dann noch Ideologen kommen, die das Ganze unterfüttern, Kameradschaftsbünde, Parteistrukturen und Konspiration anbieten, wird es brisant.

Aber viele Jugendliche wollen doch gerade heraus aus solchen festgefügten Strukturen, wollen ihr anarchisches Potential ausleben, Freiräume haben.

Deshalb ist es auch keine Massenerscheinung, daß diese Jugendlichen in organisierten Gruppen landen.

Überfälle von rechten Skinheads laufen extrem brutal ab. Wo sehen Sie Ursachen für diese Gewaltbereitschaft?

Früher liefen Auseinandersetzungen — zum Beispiel unter verfeindeten Hooligans — nach bestimmten Regeln ab. Es gab ein Agreement, keine Waffen einzusetzen. Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Daran hat auch die Polizei schuld. Sie hat angefangen, sich zwischen die gegnerischen Gruppen zu stellen und den Charakter dieser sehr rüden Spiele zu verändern. Dadurch konnten sie ihre Prügeleien nur noch mit Distanzwaffen austragen, zum Beispiel mit Leuchtspurmunition zu schießen. Zusätzlich hat der Hooliganismus einen regen Zulauf von Leuten bekommen, die die direkte Konfrontation — wie den Boxkampf — scheuen und deshalb Waffen ins Spiel bringen.

Wollen Sie damit sagen, da Aggressionen vorhanden sind, müssen sie sich auf jeden Fall austoben?

Es ist so. Natürlich verurteile ich Gewalt. Aber ich muß auch zur Kenntnis nehmen, daß es Leute gibt, die sich die Nase blutig schlagen wollen. Machismo spielt dabei eine große Rolle. Soll man nun alles an Polizei einsetzen, um das zu verhindern, oder muß man nicht Ebenen finden, wo diese Fans aufeinandertreffen können? Aber in ritualisierter Form.

Das ist die Kapitulation demokratischer Spielregeln. Dann gilt doch das Faustrecht.

Dann ist Rugby oder Football auch eine Kapitulation. Auch da geht es um Gewalt, aber in sehr ritualisierter Form. Dieses mittelschichtsspezifische Herangehen — Argumente statt Prügel — geht völlig an diesen Jugendlichen vorbei. Körperlichkeit ist für sie ein wesentlicher Punkt, Bestätigung zu erfahren. Ich kann sie doch keiner Gehirnwäsche unterziehen. Die wollen sich spüren in solchen Auseinandersetzungen.

Damit haben Sie noch nicht erklärt, warum die Gewalt zunimmt.

Auffallend ist, daß gerade Jüngere es immer selbstverständlicher finden, sich zu bewaffnen. Sie haben nicht mehr nur einen Knüppel dabei, wenn sie losziehen, um andere gezielt aufzumischen, sondern Gaspistolen und Messer. Plakativ würde ich behaupten: Die Aufrüstung in diesen Gangs hält Schritt mit der Verrohung in der Gesellschaft.

Und wie erklären Sie die?

Ich sehe den Anfang dieser Entwicklungen in den 80er Jahren: Auflösung solidarischer Strukturen, eines solidarischen Grundkonsenses hin zur Zweidrittelgesellschaft. Die Möglichkeit, Visionen zu entwickeln, gestalterisch einzugreifen, hat sich entscheidend verändert. In den westlichen Industriegesellschaften hat eine Umverteilung von gesellschaftlichem Reichtum, von Chancen und Partizipation stattgefunden. Das haben Jugendliche sehr schnell zu spüren bekommen. Es gibt immer mehr, die nicht teilhaben können und deshalb zivile Verhaltensweisen nicht entwickeln können.

Die Jugendlichen als Seismographen dieser Gesellschaft?

Jugendliche reagieren viel sensibler auf Ungerechtigkeiten und Ausgrenzung als Erwachsene, die über eine lange Sozialisation der Bedürfnisverdrängung verfügen. Über die Jugendlichen, bei denen der Frust in Autoaggression umschlägt, wie bei vielen Mädchen, spricht man nicht. Die Jugendlichen, die auffällig werden, sind nicht bereit, ihren Frust in sich hineinzufressen, sondern tragen ihn nach außen. So übel das dann oft abläuft — diese Reaktion ist erst einmal gesund.

Reizende Form der Gefühlsabfuhr, jemandem eine reinzuhauen.

Das zeigt eben auch die Erbärmlichkeit. Aber man muß natürlich auch fragen: Was wurde versäumt, um die Interessenlage der Jugendlichen zu erkennen? Und davon ausgehend: Wie werden sie befähigt, ihr Leben zu gestalten? Da könnte Schule und Sozialarbeit viel leisten.

Auch gegen den Rassismus?

Mich ärgert es, wenn Rassismus als Jugendphänomen hingestellt wird. Viele Täter, die etwa Wohnheime angreifen, sind schon erwachsen, oder die Erwachsenen stehen applaudierend daneben. Und wenn Familienministerin Merkel meint, es handele sich bloß um ein Jugendproblem, dem man mit Straßensozialarbeit beikommen könne, bleibt außer acht, daß die Triebfedern des Rassismus in der gesamten Gesellschaft vorhanden sind. Mit Jugendsozialarbeit werden der Rassismus, die Übergriffe, die Entwicklung nach rechts nicht aufgehalten.

Aber soll man mit rassistisch motivierten jugendlichen Gewalttätern denn machen?

Es muß eine konsequente Strafverfolgung stattfinden. Egal ob es der Handtaschenraub bei der Omi ist oder die rassistisch motivierte Straftat. Ich glaube nicht, daß man dafür Sondergesetze braucht.

Sollen die Delinquenten möglichst hart bestraft werden?

Nein, es muß nur klargemacht werden, daß die Gesellschaft diese Gewalt nicht augenzwinkernd toleriert. Nicht nur bei rassistischen, sondern auch bei anderen Verbrechen.

Stellen Sie auch bei politisch motivierten Tätern Erziehen vor Strafe?

Dieses Ziel muß bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen aufrechterhalten werden.

Wie sollten die menschenverachtenden Antriebe zu einer Straftat juristisch bewertet werden?

Gerade als Linker muß man sich davor hüten, Prinzipien des liberalen Strafrechts über Bord zu werfen, nur weil die Akteure jetzt vornehmlich aus einem anderen ideologischen Lager kommen. Auch wenn es einem unter Umständen weh tut, wenn dann nicht die harte Strafe herauskommt, die man sich für eine widerlich rassistische Tat wünscht. Interview: Bascha Mika