„Hier hat der Staat eine schwache Position“

In den Städten und Dörfern Oberägyptens haben die islamistischen „Gamiat“ ihre eigenen Regime errichtet/ Mit militärischer Gewalt sucht die Regierung in Kairo seit Monaten, ihren bewaffneten Widerstand zu brechen  ■ Aus Assiut Iveas Lübben

Die oberägyptische Stadt Assiut macht in diesen Tagen einen überraschend friedlichen Eindruck. Bauern in langen weißen oder hellblauen Galabias, ihre weißen Schals turbanähnlich um den Kopf gewickelt, verkaufen an den Straßenrändern Honig- und Wassermelonen. Auf den Gehwegen hocken Bauersfrauen vor Bastkörben mit Tomaten, Hühnereiern und lebenden Tauben, die sie den Vorübergehenden wortreich anbieten. Frauen in leichten Sommerkleidern begutachten die Stoffballen im Textilbazar. Die Villen an den Azaleen-gesäumten Hauptstraßen, von denen der Putz abbröckelt, zeugen von früherem Reichtum und geben der Stadt auch heute einen aristokratischen Glanz. Nur die Poster der „Gamiat Islamia“, der „Islamischen Vereinigungen“, die an den Häuserwänden kleben, erinnern daran, daß Assiut immer wieder als Zentrum des „moslemischen Extremismus“ Schlagzeilen macht.

Bis vor kurzem konnten sich die Mitglieder der verbotenen „islamischen Vereinigungen“ in Assiut und Umgebung fast unbehelligt bewegen. Dies, obwohl die Organisation zusammen mit der Gruppe „Jihad Islami“ auch für die Ermordung des früheren ägyptischen Präsidenten Anwar Sadat und des ehemaligen Parlamentspräsidenten Mahgub verantwortlich gemacht wird. Doch seit die Regierung in Kairo den „Gamiat“ vor rund zwei Monaten den Krieg erklärt hat, ist ihr wichtigster Treffpunkt in Assiut, die „Moschee der Islamischen Wolfahrtsgesellschaft“, von Panzern umstellt. Vor allen öffentlichen Gebäuden und Kirchen halten Soldaten, hinter Sandsäcken verbarrikadiert, Wache. Die Kader der Gamiat sind untergetaucht oder haben sich in den Bergen verschanzt. Dutzende oder Hunderte ihrer vermeintlichen Anhänger — die genaue Zahl weiß niemand — wurden verhaftet.

In der koptisch-orthodoxen Mar- Girgis-Kirche haben sich an diesem Freitagmorgen etwa 200 Männer und Frauen versammelt. Es ist der vierzigste Tag nach dem Tod eines Gemeindemitgliedes, des Arztes Birzi. Er starb keines natürlichen Todes. Victor Birzi, ein Bruder des Toten, erzählt, wie er starb. „Es war am 20. Juni. Als ich in Deirut ankam, wo er seine Praxis hatte, war das Gebäude von Polizei umstellt. Ich fand meinen Bruder in einer Blutlache, neben ihm auf dem Boden die Gedärme. Kurz nach ein Uhr mittags war ein vermummter Mann mit einem Maschinengewehr in den Behandlungsraum gestürzt und hatte auf meinen Bruder geschossen. Es war geplanter Mord. Mein Bruder hat seit 28 Jahren in Deirut gearbeitet. Er hat arme Leute umsonst behandelt, Moslems und Christen. Er hatte keine Feinde. Sie wollen uns alle umbringen.“ Wer mit „sie“ gemeint ist, versteht sich in Assiut offenbar von selbst: die Gamiat. Am Vortag des Mordes hatten ägyptische paramilitärisch ausgerüstete „Sicherheitskräfte“ eines der führenden Mitglieder der „islamischen Vereinigungen“ in Sanabo, einem Nachbarort von Deirut, umgebracht. Mit dem Mord an Dr. Birzi und zwei christlichen Ladenbesitzern im gleichen Gebäude wollten die Islamisten den Tod ihres Anführers rächen. In den letzten Monaten starben bei Auseinandersetzungen zwischen den Gamiat, Polizisten, Soldaten und Christen fast vierzig Menschen, meist Christen.

„Der Mord an Christen ist die Antwort auf die Unterdrückung durch diesen Polizeistaat. Natürlich töten wir nicht einfach jeden beliebigen Christen. Er muß sich schon durch Bekehrungsversuche von Moslems oder durch Verspottung des Islam hervorgetan haben“, erklärt ein Mitglied der Gamiat in Assiut und gibt dann ganz unverhohlen zu: „Natürlich unterlaufen uns dabei auch Fehler.“

Nach ihrer Ideologie sind Christen Bürger zweiter Klasse, sogenannte Dhimmi. Die Koraninterpretation der Gamiat zeichnet sich durch große Schlichtheit aus: „Im Koran steht, keine Religion stehe über dem Islam. Das heißt, ein Christ, mit dem ich auf der Straße gehe, muß hinter mir laufen. Wenn ein Christ neben meinem fünfstöckigen Haus bauen will, darf sein Haus höchstens vier Etagen haben“, erklärt der junge Mann.

Die Organisation enstand in den siebziger Jahren an der Universität von Assiut. Ihre Mitglieder kamen vor allem aus den Familien armer Bauern in Oberägypten, die in Assiut studieren durften. Mohamed Osman Ismael, ein enger Vertrauter des damaligen Präsidenten Anwar Sadat, war zu dieser Zeit Gouverneur von Assiut. Er unterstützte die Gamiat während ihrer Gründungsphase mit Waffen und Geld, da er die „Säuberung Ägyptens von der roten Gefahr“ zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte. Die islamischen Extremisten waren ihm ein willkommenes Instrument zur Bekämfung der Linken an der Universität von Assiut. Mit seiner Unterstützung machten sich die Gamiat umgehend daran, die Universität zu „islamisieren“. Für männliche und weibliche Studierende wurden getrennte Caféterias eingeführt, gemeinsame Feste und Exkursionen wurden verboten. Studenten, die es wagten, mit ihren Kommilitoninnen zu sprechen, wurden krankenhausreif geschlagen.

Doch bald entzweiten sich die Gamiat mit ihren Gründungsvätern, denen sie vorwarfen, es mit der Islamisierung Ägyptens nicht ernst zu meinen. Präsident Sadat wurde schließlich selbst zum Opfer jener Strömung, deren Entstehung ihm zunächst so gelegen kam. Während die erste Generation der Gamiat schließlich in die Gefängnisse wanderte, kehrten die jüngeren Mitglieder in die Dörfer zurück, wo sie sich als Handwerker und Geschäftsleute etablierten und unter den Augen der Polizei mit dem Aufbau „islamischer Regime“ begannen. „Bei uns im Ort besitzen sie Supermärkte, Handwerksbetriebe und Apotheken“, berichtet Mahmud M., ein junger Tierarzt aus Deirut, „auch den Metallhandel haben sie unter ihre Kontrolle gebracht. Bei uns in Oberägypten hat der Staat von jeher schwache Position. Es gilt als Schande, wenn man sich bei Konflikten an die Polizei wendet. Blutrache ist bei uns gang und gäbe — und die Leute sind stolz darauf.“ Das politische Leben in Oberägypten werde von den großen Familienclans kontrolliert, stellt er resigniert fest. Sie verfügten auch über eigene Milizen, die Polizeifunktionen wahrnehmen. Ohnehin habe in Oberägypten jeder „richtige Mann“ eine Waffe. Deirut sei das Zentrum des Waffenhandels. „Hier gibt es alles“, berichtet Mahmud, „von der Panzerfaust bis zu Luftabwehrgeschossen. Die Waffen werden von Polizisten und Soldaten in den Handel gebracht, um ihr karges Gehalt aufzubessern, oder von Beduinen aus Libyen, Israel und dem Sudan ins Land geschmuggelt.“ Damit haben die Gamiat, die sich jetzt in einem regelrechten Krieg mit ägyptischen Sondereinheiten befinden, keine Probleme, sich mit Waffen zu versorgen. Heute rekrutieren sie ihre Mitstreiter vor allem aus den ganz armen landlosen Familien, die keine Protektion durch die eingesessenen mächtigen Familienclans genießen.

In Qusseia, einem Nachbarort von Deirut, lebt der Politiker Gamal Assaad. Er ist Christ und war von 1987 bis 1990 über die Liste der Moslembrüder Mitglied des ägyptischen Parlaments. Heute ist er Mitglied der sozialistischen „Tagammu-Partei“ und schreibt gleichzeitig Artikel in der islamistischen Wochenzeitung Al Schaab. Die Gamiat haben ihn auf die Liste möglicher Todeskandidaten gesetzt. „Ich erlebe die Zerrissenheit unserer Gesellschaft tagtäglich am eigenen Leib“, berichtet er. „Die Gamiat werfen mir vor, ein Christ zu sein. Kopten halten mir vor, die Christen zu verraten. Meine Parteigenossen werfen mir mein gutes Verhältnis zu den Moslembrüdern vor.“ Er hält einen Moment inne und fügt dann hinzu: „Aber wir können es uns nicht leisten, die alten Rechnungen zu begleichen. Wir müssen den Extremismus auf beiden Seiten, bei Christen und Moslems, begrenzen. Darum halte ich den Dialog mit den gemäßigten islamistischen Strömungen für unabdingbar.“ Er warnt davor, die Gamiat mit anderen islamistischen Strömungen in eine Topf zu werfen.

Auch die Gamiat legen Wert auf diese Unterscheidung von den übrigen Islamisten, denen sie vorwerfen, sie hätten „dem Jihad abgeschworen“, wie ein Mitglied der Organisation es ausdrückt. Die Moslembrüder distanzieren sich ihrerseits von den Gamiat, versuchen aber, die Verantwortung für die zahlreichen blutigen Vorfälle von ihnen auf andere abzuwälzen. Die Christen würden die Moslems provozieren, und es seien die Kommunisten, die die Vorfälle über Gebühr aufgebauscht hätten, erklärt Mohamed Habib, der Vorsitzende der Assiuter Hochschullehrervereinigung.

„Der Staat selbst verhält sich in dieser Lage wie eine bewaffnete Gang. Sie verhaften Dutzende von Unschuldigen, schlagen bei Hausdurchsuchungen alles in Trümmer und foltern die Gefangenen schlimmer als die Tiere. Selbst die Gemäßigten unter den Gefangenen verlassen die Haft als Extremisten.“ Einen Ausweg sieht er in einer politischen Demokratisierung, in der Einführung des Parteienpluralismus und einer gemäßigten Variante der islamischen Scharia als Rechtssystem — „nicht wie die Gamiat es sich vorstellen. Sie sind intolerant. Sie greifen jeden an, der ihnen im Wege steht, nicht nur Christen, auch uns.“ Auch wenn die Moslembrüder versuchen, mäßigend auf die Gamiat einzuwirken, bezweifeln die meisten doch, daß man mit ihnen zu Kompromissen finden kann. „Ich habe einen Freund bei den Moslembrüdern“, erzählt ein protestantischer Pfarrer in Assiut, „er hat mir gestanden, daß er Angst vor dem Ausbruch eines Bürgerkrieges zwischen den Moslembrüdern und den Gamiat hat.“