Neulich...
: ...im IC 693

■ Von einem gerechten Feldzug im falschen Wagen

Gegen die Überbevölkerung hilft nur Vorbestellen. Man winkt mit dem Ticket, und das Gewimmel hat den Platz zu räumen. So und nur so rückt man voran, vom Kinositz ins Hotelzimmer, Feld für Feld, ein Leben lang. Es geschehen aber noch Dinge zwischen Kindergartenplatz und Grabstelle, von denen sich die ganze Buchungsweisheit nichts träumen läßt, zum Beispiel neulich im IC 693 von München nach Frankfurt.

Da hockte ich also und raste so vor mich hin und hatte nahezu den ganzen Großraumwagen für mich, aber plötzlich kam wie von ungefähr eine ältliche und um so entschiednere Person durch den ganzen leeren Wagen heran und stellte sich vor mich hin und winkte mit dem Ticket: „Entschuldigen Sie, ich habe hier reserviert!“

“Ich auch“, sagte ich, und das war nicht eben wahr, aber immerhin gerecht. „Nehmen Sie irgendwo Platz“, sagte ich, „alles frei!“ Sie aber verhärtete sich gegen mich: „Entschuldigen Sie, hier ist mein Platz.“ Das beunruhigte mich am Ende doch ein wenig. Vielleicht wissen Sie, was ich meine. Leere Sitze, wohin man sieht, und plötzlich schauen sie aus, als hätte nur niemand sie vorbestellen wollen. Wie? Sie werden schon nichts taugen. Schnell faßte ich mich: „Zeigen Sie mir doch mal Ihre Reservierung“. Auf ihrer Karte stand: Platz 17, Fenster, Wagen 43. „Tut mir leid“, sagte ich, „Sie sind im falschen Wagen“. Da stockte ihr der Atem.

Ich wußte, was sie jetzt durchmachen mußte. Dreimarkfünfzig vom Sparbuch abgehoben und einen Sitzplatz erworben, klein aber jedenfalls nicht dein, und dann sind auf einmal alle andern Sitzplätze auf Erden von allem Gesindel umsonst zu haben, und der eigne saust in einem unbekannten Wagen 43 dahin und ist vielleicht schon fremder Liederlichkeit verfallen, Nichtzahlern gar. Sie fing an, aufs Erbärmlichste zu jammern und bedrängte mich, sie zum Wagen 43 zu führen, was ich begreiflicherweise ablehnen mußte, und es schien kein Ende mehr zu nehmen, bis sie doch noch eines vorüberziehenden Schaffners habhaft wurde, der nur kurz ihre Fahrkarte musterte und dann mein Werk vollendete: „Sie sitzen im falschen Zug.“

Wahrhaftig, sie hatte aus Versehen den IC erstiegen, der zehn Minuten vor dem ihren, allerdings mit gleichem Ziel, abgefahren war. So raste nun ihr reservierter Platz 17, Fenster, in Wagen 43 mit zehn Minuten Abstand hinter uns her, und es war keine Hoffnung mehr außer einer. „Bleiben Sie doch einfach sitzen“, riet der Schaffner. Die Frau nickte. Ich glaube aber, sie hat ihn nicht gehört.

Im nächsten Bahnhof ist sie ausgestiegen, erhobenen Hauptes. Eigentum verpflichtet. Manfred Dworschak