Der Inzest ist der Kern des Fluchs

■ „Twin Peaks — Der Film“, Idylle und Gewalt

Twin Peaks ist überall und nirgends, ein Ort im Nordwesten der USA, jenseits der großen Städte im Reiche Suburbia, mit weißen Zäunen, Holzfällerhemden und kleinen Coffee-Shops. Hier hatte David Lynch, spätestens seit „Blue Velvet“ als Fachmann für subterrane Angelegenheiten bekannt, die siebzehnteilige Serie „Twin Peaks“ angesiedelt.

Sie begann 1990 mit der Entdeckung der im Fluß treibenden, in Plastik gehüllten Leiche des Schulmädchens Laura Palmer. Im Zuge der unorthodoxen Ermittlungsarbeiten des FBI-Spezialagenten Dale Cooper wird ein Typenarsenal vorgestellt, das in den USA längst Eingang in die Alltagsmythologie gefunden hat: Die „Log-Lady“, die einen kleinen Baumstamm wie ein Baby herumträgt; der dürre Riese mit dem deutschen Akzent, der Agent Cooper im Traum erscheint und ihm wichtige Hinweise gibt; die vierzigjährige Nadine mit der Augenklappe, die fest glaubt, sie sei vierzehn und ginge noch zur Schule; der Marine-Offizier, der seinem Sohn im Verlautbarungston Versöhnung anbietet; oder der eher einfach strukturierte Polizist Andrew, der ständig Spermienproben abgibt... Keine der Figuren wird jemals völlig durchsichtig, auch wenn man sich schnell an ihre Manierismen und Schrulligkeiten gewöhnt hat. Manche verschwinden plötzlich von der Bildfläche, um später in Maskeraden als japanische Handlungsreisende oder Restaurantkritiker wieder aufzutauchen; andere, wie Laura Palmer, führen zwei oder drei Leben gleichzeitig; wieder andere, wie Lauras Vater, werden von Dämonen besessen.

Die Hinweise, Indizien und verschlüsselten Botschaften, die in Tagebüchern, auf Kassetten, durch Ringe, Wetterberichte oder versteckte Buchstaben zwischen dem FBI-Mann und den Bewohnern von Twin Peaks zirkulieren, sind stets kryptisch: „Die Eulen sind nicht, was sie scheinen“, lautet eine, oder: „Achte auf den Mann in der lächelnden Tasche.“ Für den Zuschauer glatter Nonsens, wissen die Leute von Twin Peaks die Zeichen zu deuten. Verläßlicheres ist ohnehin nicht zu haben.

Auf diese Art hat Lynch das Gesetz der Serien zugleich befolgt und durchkreuzt. Er hat Charaktere vorgestellt, aber die sind schillernd; es gibt Gut und Böse, aber immer in ein und derselben Person. Es gibt Untersuchungen, aber die führen zu immer neuen Mysterien; nie schließt sich der Kreis ganz.

Es war deshalb sehr spannend zu sehen, was aus „Twin Peaks“ werden würde, wenn Lynch nicht siebzehn Folgen Zeit hätte, eine Figur zu drehen und zu wenden. „Twin Peaks — Der Film“ erzählt die Zeit vor Laura Palmers Ermordung; die biblischen letzten sieben Tage ihres Lebens, die ihrerseits im Schatten der Ereignisse um die Ermordung eines anderen Teenagers, Teresa Banks, standen, die ebenfalls auf dem Wasser treibend gefunden wurde. So rankt sich jede neue Kette von Ereignissen um eine Tote im See; aber nicht, wie man das von herkömmlichen Krimiserien gewöhnt ist: Auf Mord folgt Untersuchung, Verwicklung und schließlich Auflösung. Bei Lynch lasten die toten Teenager als Alpdruck auf der gesamten kleinen Gemeinde, so als wären sie alle in die archaischen Zeiten des Menschenopfers zurückgefallen und müßten nun für diese Schuld büßen.

Dabei waren Teresa Banks und Laura Palmer keineswegs Unschuldsengel. Der zweite Teil des Films zeigt Laura Palmer im karierten Highschool-Röckchen auf dem Schulweg mit ihrer besten Freundin im Sonnenschein, aber ein paar Minuten vor acht stiehlt sie sich davon, um in der Toilette eine Prise Kokain zu schnupfen. Haltlos treibt die Siebzehnjährige zwischen rosaroten Teenagerträumen mit Schutzengeln, einem Bordell und grauenhaften Heimsuchungen hin und her. Warum Lynch der Regisseur der amerikanischen Teenager ist, das konnte man in „Wild at Heart“ genauso sehen wie jetzt wieder in „Twin Peaks — Der Film“. Aus heiterem Himmel gerät Lauras Vater in Rage über ihre ungewaschenen Hände (ein heimlicher Vorwurf der Onanie), nur um ihr Minuten später weinend seine übergroße Liebe zu gestehen. Nachts aber wird er zu Bob, einem rasenden Spät-Hippie mit gefletschten Zähnen, der zu ihr ins Bett kommt und den sie halb begehrt und halb zu Tode fürchtet — zu Recht, wie sich später herausstellt. Der Inzest ist der Kern des Fluches, der über Twin Peaks liegt.

Nie ist Lynch seinem ersten Mitternachtsfilm „Eraserhead“ — noch immer ein Kultfilm der Splatterfilmgemeinde — so nahe gekommen wie in „Twin Peaks — Der Film“. Die Räume sind fast vollständig imaginär — von den kleinen Landstraßen, den Wäldern und Coffee-Shops in Twin Peaks ist fast nichts mehr zu sehen. Auch die Figuren sind reduziert; es gibt eigentlich nur noch Freaks, Zwerge, morbide Mondsüchtige, menschliche Bulldozer, maskierte Jünglinge, alte Hexen. „The Wizard of Oz“, Lynchs Lieblingsmärchen, läßt grüßen. Gleichzeitig ist der Film durch diese Reduktion ungleich schwärzer, auswegloser. „Wo können wir noch hingehen?“, fragt Laura verzweifelt ihren Freund James. Türen auf Bildern öffnen sich immer wieder zu dem einen Raum mit rotem Samtvorhang und Mosaikfußboden, eine Mischung aus Edward Hopper und New-Orleans-Eleganz, in dem gespenstische Begegnungen stattfinden. Die bedrohliche Stille in diesem Raum wird kontrastiert mit dem stampfenden Höllenrhythmus einer Sexbar, in deren stroboskopisch-flackerndem Rotlicht Laura Palmer ihre letzten Stunden verbringt.

Lynch entfesselt einen düsteren Bildersturm aus Detailaufnahmen von aufgerissenen Mündern, die wie Krater aussehen, reißenden Schnittwechseln und atemberaubenden Handkamera-Galopps, um das wüste Land vorzustellen, was er unter dem bestickten Deckchen der Vorstadtgemeinden gefunden hat. Der Schrecken, den er erzeugt, entsteht durch ständige Inversion: Wo Schutz sein sollte, ist existenzielle Bedrohung; wo Intimität war, ist plötzlich schneidende Gewalt; auf Vertrauen folgt absoluter Verrat. Ständig werden Wölfe in den Schafspelzen entdeckt. Der eigene Körper wird den Protagonisten zum unbeherrscharen, ekelerregenden Unbekannten. „Man wächst, und schon verfault man“, hat Lynch einmal zu einem Interviewer gesagt. Bilder von abgeschnittenen Ohren, von Erbrochenem, von blau angelaufenen Lippen in Kontrast zum reinen Teenager- Teint erinnern an Vergleiche, die die christliche Sittenlehre zum Beweis von der Verderbtheit des Körpers bemühte — was auch bei Lynch in dem Alter amsinnfälligsten wird, wo die bösen Triebe erwachen. Immer wieder inszeniert er den Umschlag von Unschuld zu Verworfenheit. Im Gespräch mit dem Orchideenzüchter verzerrt sich Lauras Engelsgesicht für Sekunden zu einer schrecklischen Fratze. Mariam Niroumand

„Twin Peaks — Der Film.“ Regie: David Lynch, mit Sheryl Lee, Ray Wise, Moira Kelly, David Bowie u.a. USA 1992, 135 Minuten.