„Das Geld hat uns gespalten“

Im Alentejo, dem trockenen Süden Portugals, sind die Errungenschaften der Revolution abgeschafft — nun liegt die Zukunft irgendwo zwischen den eigenen Traditionen und einem EG-finanzierten Staudamm  ■ VON ANTJE BAUER

Auf der Rückseite von Santa Sofia bellen Horden junger Hunde. Hühner picken in sorgfältig eingezäunten Gemüsegärten. Dahinter: Felder, soweit das Auge reicht. Gelber Weizen, Korkeichen und Olivenbäume. Und wieder Weizen, Korkeichen, Olivenbäume. Ein Schar Vögel zieht darüber ihre Kreise, auf der nahegelegenen Straße fahren Autos in die Provinzhauptstadt Evora. Sonst bewegt sich nichts. Kein Traktor, kein Mensch ist in dieser erstarrten Landschaft zu sehen.

Auf einer Bank an der Dorfstraße sitzen, eng aneinandergerückt, alte Männer. Dunkle, zerfurchte Gesichter unter Schiebemützen. „Seit zwei Jahren ist es mit der Kooperative vorbei“, sagt einer von ihnen. „Stück für Stück haben wir das Land an die Grundbesitzer zurückgeben müssen, und seither gibt es hier keine Arbeit mehr.“ Santa Sofia, eine Viertelstunde Fahrt von Evora entfernt, ist eine historische Stätte. Hier nahm nach der portugiesischen Nelkenrevolution von 1974 die Welle der Landbesetzungen ihren Anfang, die ein Symbol für das neue Portugal wurde. Hier wurde die erste der zahlreichen Agrarkooperativen des Alentejo gegründet, die zu ihren Blütezeiten mehr als 70.000 Menschen Arbeit gaben. „5.000 Hektar Land haben wir damals besetzt“, erinnert sich ein ehemaliger Landarbeiter. „Wir hungerten, und die Großgrundbesitzer behaupteten, sie hätten keine Arbeit. Da haben wir begonnen, auf eigene Faust die Oliven zu sammeln, die auf den Bäumen verfaulten.“

Jahre des Aufbruchs

Aus den nahen Städten kamen außer José Afonso, dem Barden der Revolution, auch sympathisierende Intellektuelle, die hier eine Theatergruppe aufbauten und Alphabetisierungskampagnen anleierten. „Sogar ein Amphitheater wollten wir bauen“, erinnert sich Francisco Pinto de Sa wehmütig. 1975 war er hier, um die Landbesetzungen zu unterstützen. Heute ist er nach Santa Sofia zurückgekehrt, um den ehemaligen Kooperativisten bei der Einforderung der Überbleibsel ihres Projekts zu helfen: Einige wenige haben sich die Landwirtschaftsmaschinen angeeignet, die damals von allen gemeinsam gekauft wurden, haben die Viehherden der Kooperative verkauft, ohne daß die Männer, die heute als Rentner auf der Bank an der Straße sitzen, auch nur einen Escudo davon abbekommen hätten. 22.000 Escudos Rente, weniger als 300DM, erhalten diese ehemaligen Landarbeiter monatlich.

Die Agrarreform, die radikalste Neuerung der portugiesischen Revolution, wurde bald ausgehöhlt — von außen wie von innen. Die regierende Sozialistische Partei unter Mario Soares ließ 1977 ein Gesetz passieren, das die Rückgabe besetzter Ländereien an die ursprünglichen Eigentümer ermöglichte. Zinsgünstige Kredite für die Kooperativen wurden nach ihrem Auslaufen nicht erneuert. Eine Kooperative nach der anderen mußte wegen Zahlungsunfähigkeit und Landmangel aufgelöst werden. Heute gibt es gerade noch zehn Kooperativen in Portugal.

Dazu kam ein internes Problem: „Die Jungen hier wollten in erster Linie den Umgang mit den Landmaschinen lernen“, klagt einer der Rentner auf der Bank. „Und als sie das konnten, sind viele von ihnen in die Dienste der Großgrundbesitzer getreten, weil sie dort besser bezahlt wurden. Die Jungen wollen nicht mehr auf dem Feld arbeiten, das ist ihnen zu hart. Und sie wollen Geld verdienen. Das Geld hat uns gespalten.“

Nur wenige fanden freilich Anstellung bei den Landeignern. Für die Bedienung der Mähdrescher und den Abbau des Korks sind zwei oder drei Angestellte genug. Die übrigen zogen es vor, in den umliegenden Städten Arbeit zu suchen oder zu emigrieren, statt wie ihre Eltern ein karges Leben als Landarbeiter zu führen. Das Geld der in die Städte Abgewanderten hat Santa Sofia einen bescheidenen Wohlstand in Form von Alufenstern und -türen gebracht, die die weißgekalkten, blaugerahmten Bauernkaten verschandeln. Jugendliche brettern auf qualmenden Mopeds die Dorfstraße auf und ab, während ihre Väter stolz und ängstlich den neuen Renault vor der Haustür parken.

Manuel Carapinha, Vorsitzender der kommunistischen Landarbeitergewerkschaft in Evora, sieht schwarz für die Zukunft des Alentejo. „Wir hatten mal 36.000 Mitglieder. Jetzt sind es nur noch 4.000“, klagt er. „Die Regierung in Lissabon macht eine Politik für die Großgrundbesitzer. Und die wollen keine Arbeit geben. Es gibt keine Zukunft für die Landwirtschaft hier.“

Den Blick fest auf den alten Feind gerichtet — die Großgrundbesitzer und die Regierung in Lissabon — hat der Boss mit dem Bauernschädel den neuen, viel mächtigeren Zerstörer der Landwirtschaft noch gar nicht ausgemacht: die EG-Agrarpolitik. Seit dem Beitritt Portugals zur Europäischen Gemeinschaft 1986 müssen sich die portugiesischen Agrarprodukte an Weltmarktpreisen messen — und dieser Vergleich fällt negativ aus. Darüber hinaus basiert die Landwirtschaft hier zu einem wichtigen Teil auf Produkten, die in der EG überschüssig sind: Getreide und Milch. Die Kornkammer Portugals ist deshalb zu einem Objekt der EG- Stillegungsprämien und Vorruhestandsregelungen geworden. Auf einer Tagung der CAP, des portugiesischen Bauernverbandes, sagten die Landeigner Mitte Juni, die EG- Agrarpolitik in Portugal stelle die Landwirtschaft vor die Existenzfrage. In diesem Jahr hat die Weizenproduktions-Verhinderungspolitik der EG darüber hinaus einen unerwarteten Helfer bekommen: Eine anhaltende Dürre wird die Ernte vermutlich auf die Hälfte ihrer normalen Menge reduzieren.

In der allgemeinen Rat- und Perspektivlosigkeit steigt seit neuestem ein Projekt, das eigentlich 13 Jahre ruhte, wie ein Phönix aus der Asche: der Staudamm Alqueva. Anfang der 70er Jahre geplant, sollte der Damm den portugiesisch-spanischen Grenzfluß Guadiana auf der Höhe des Dorfes Alqueva stauen. Das Wasser aus diesem größten künstlichen See Europas sollte 175.000 Hektar Land bewässern, Strom für Portugal liefern, die umliegenden Dörfer mit Wasserreserven versehen und die Ansiedlung von Industrie fördern. 1977 begann der Bau, ein Jahr später wurden die Arbeiten bereits wieder abgebrochen — aus verwickelten politischen Gründen, wie es in der Region vage heißt.

„Barragem“ weist ein verwitterter Pfeil auf dem Platz der Gemeinde Portel optimistisch. Der Weg zum Damm führt durch 15 Kilometer unbesiedelter Pampa. Auf der gutasphaltierten Straße duftet es nach Wildkräutern. Hinter Gattern weiden Kühe, große eingezäunte Gebiete sind als Jagdreviere ausgewiesen, an manchen Stellen liegt die Erde nackt der Erosion preisgegeben. Die Straße führt bis zur Brücke über den Fluß, jenseits davon verläuft sie sich im Gestrüpp. Ein erster, niedriger Damm liegt verlassen und staut den Guadiana ein wenig. Einsame, menschenleere, schweigende Landschaft.

Der Mammutstaudamm

Das Mammutprojekt, dessen Anfänge hier zu besichtigen sind, soll, wenn es nach dem Willen vieler Einwohner geht, nun weitergebaut werden — mit Subventionen der EG. Im vergangenen Jahr wurde ein portugiesisch-belgisches Konsortium mit einer Studie über den Damm beauftragt, deren Ergebnisse in diesem Monat vorgelegt werden sollen. Im Herbst soll die EG über den Bau entscheiden. 450 Milliarden Escudos, 5,6 Milliarden DM, soll das Projekt etwa kosten und innerhalb von 25 Jahren fertiggestellt sein. Bezüglich der Größe des Projekts sind mehrere Alternativen ausgearbeitet worden: Die eine reduziert die zu bewässernde Fläche, die andere will auf das Kraftwerk verzichten, alle aber vertrauen darauf, daß der Damm die wirtschaftliche Entwicklung der trockenen Region anziehen wird wie Honig die Bienen.

„Wenn der Damm kommt, wird hier alles besser“, versichert ein Rentner, der im Dorf Alqueva, wenige Kilometer vom Fluß entfernt, im Schatten eines Hauses sitzt. Nach dem Ende der Agrarreform hatte er, wie viele hier, Arbeit beim Dammbau gefunden. Dann war es vorbei, von einem Tag auf den anderen. Heute arbeiten eine Reihe Frauen auf einem Bauernhof im Eigentum spanischer Unternehmer, die hier Obstkulturen besitzen. Die arbeitsfähigen Männer sind alle emigriert. In der dämmrigen Dorfkneipe verlieren sich vier Kunden, junge Männer aus dem Nachbarort Moura, die hier ein Haus bauen. Keiner von ihnen lebt ständig im Alentejo. Zur Erntezeit fahren sie Richtung Norden, nach Frankreich oder Belgien.

Viel konkreter als die Bewohner von Alqueva kann auch sonst keiner die Hoffnung auf Entwicklung durch den Damm formulieren. „Der Staudamm würde zunächst während des Baus Arbeitskräfte hier binden. Durch Bewässerung könnte brachliegendes Land bearbeitet werden. Und schließlich wäre es dann einfacher, Industrie anzusiedeln“, glaubt José Manuel Fialho, kommunistischer Vizebürgermeister der Gemeinde Portel, zu der auch das Dorf Alqueva gehört. 80 Prozent der Arbeitskräfte hier sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Der Ort leidet unter der Trockenheit und der Abgeschiedenheit, unter der Flucht der Jungen und der Perspektivlosigkeit. Was für eine Art Industrie hierherkommen könnte, weiß denn auch der Provinzyuppie Fialho nicht — genauso wenig, wie das Rätsel zu lösen wäre, daß durch Bewässerung noch mehr landwirtschaftliche Produkte erzeugt werden, die mit der EG- Agrarpolitik kollidieren.

In der staatlichen „Kommission zur Koordination des Alentejo“ in Evora ist man etwas vorsichtiger mit Äußerungen zum Damm. Zwar hat sich die Organisation, die mit der Entwicklung von Perspektiven für die Region betraut ist, positiv über das Projekt ausgesprochen — schließlich darf man sich hier nicht unbeliebt machen, indem man das Symbol aller Hoffnungen ablehnt —, doch Conceicao Barradas, Verantwortliche für den Bereich Wirtschaft und Regionalplanung, ist skeptisch. „Es gibt hier im Alentejo etwas Chemieindustrie, Metallurgie und Textilfabriken sowie Korkindustrie, Automontage und Marmorabbau — das wär's im großen und ganzen, und daran wird sich auch in der Zukunft nicht viel ändern. Ich glaube, es wird in der Zukunft kleine Pole sehr intensiver Landwirtschaft geben mit Bewässerung und Gemüseanbau auf geringer Fläche, wo der Bauer selbst sein Feld bearbeitet, und andererseits große Landwirtschaftsunternehmen mit extensiver Landwirtschaft — Viehzucht und Jagd, zusammen mit Waldnutzung. Die Wiederkehr des Projektes Alqueva kann falsch sein. Denn die Bedingungen sind heute ganz anders als damals, als es geplant wurde.“

Während sich die portugiesischen Umweltschützer mit Urteilen zum Damm bislang zurückhalten, schlagen ihre Kollegen auf der spanischen Seite die Hände über dem Kopf zusammen. „Die Stillegungsprämien der EG sind für die Region katastrophal“, schimpft Jesus Garzon, Mitglied der Umweltschutzgruppe „Cepa“, just auf der anderen Seite des Guadiana in der spanischen Extremadura. „Wenn die Felder brachliegen, setzt sich darauf Gestrüpp fest. Wenn das in Brand gerät, gibt es kein Halten mehr — erstens, weil es keine Strukturierung durch unterschiedliche Pflanzen mehr gibt, andererseits, weil keine Menschen mehr in der Umgebung arbeiten, um sofort löschen zu können. Die Folge ist ein rapider Anstieg der Erosion.“

Die südspanische Provinz Extremadura, in der seit Jahren weite Gebiete brachliegen, ist ein markantes Beispiel für den Versteppungsprozeß infolge von Flächenbränden. „Der Damm ist genauso schädlich“, sagt Garzon. „Zum einen sind die Produkte, die durch Bewässerung angebaut würden, in der EG überschüssig, zum anderen würden die Bauern beginnen, künstlich zu düngen und damit die Bodenqualität zu mindern — was sie bislang nicht tun —, und schließlich ist der Guadiana der einzige wilde Fluß in Südwesteuropa, wo noch Fische aus dem Meer hochschwimmen. Es gibt im Guadiana 30 Fischarten, die sonst nirgends in Europa vorkommen.“ Für Garzon gibt es nur eine Zukunftsperspektive: angepaßte traditionelle Landwirtschaft und Förderung des örtlichen Handwerks.

In der mittelalterlichen Stadt Evora wird dieses Konzept schon teilweise angewandt. „Alentejanische Küche“ steht beinahe obligatorisch an den Restaurants, und selbstverständlich werden hier keine Gerichte serviert, die sich nach dem vermuteten Geschmack des Touristen richten, sondern die gewohnte Brotsuppe, das gebratene Zicklein und die kleinen runden Käse. In den Gassen der Altstadt hängen gewebte Decken zum Verkauf aus, Holztruhen mit Bauernmalerei und Keramik in leuchtenden Farben stehen vor Rummellädchen.

Zurück zur Brotsuppe

Die traditionellen Fähigkeiten auch in den Dörfern wieder zur Geltung zu bringen ist Camilo Tavares Mortaguas Ziel. Die von ihm gegründete Vereinigung „Terras Dentro“ (Binnenland) hat ihren Sitz in Alcacovas, einem weißgekalkten Dörfchen südlich von Evora. „Wir müssen hier in erster Linie verhindern, daß die Leute weiterhin abwandern“, erläutert Camilo Mortagua. „Und wir müssen kleine Investoren anziehen, die hierherkommen, weil es ruhig ist, weil es viel Platz gibt und eine kulturelle Identität. In der heutigen Kommunikationswelt ist es nicht mehr von Bedeutung, ob man sein Büro in Lissabon oder in Alcacovas hat. Das müssen wir nutzen.“

Dieses Jahr wurde die junge Vereinigung Nutznießer des neuen EG- Programms „Leader“, das die fortschreitende Versteppung bremsen und Projekte fördern will, die die Dörfer revitalisieren und die Leute auf dem Land halten. Sie hält in den Dörfern ihres Einzugsbereichs Versammlungen ab, auf denen sie sich über die Probleme der Anwohner informiert und ihnen Ansätze für Auswege aufzeigt. Mit dem EG-Geld führt sie Rentabilitätsstudien für lokale Investitionsprojekte durch. „Wir brauchen hier einen Tourismus der Ruhe und der Einfachheit“, versichert Mortagua. „Und dieser Tourismus muß gleichzeitig Schaufenster für unsere Produkte sein. Wir müssen qualitativ hochstehende Produkte in geringen Mengen produzieren. Das ist unsere Chance.“

Möglichkeiten gibt es viele: Honig, Wein, Heilkräuter, Käse und Wurst aus dem Alentejo können vielleicht eines Tages in unseren Bioläden zu beziehen sein. Für diese Pläne braucht man außerdem keinen Staudamm: „Für das, was wir hier machen, reicht das vorhandene Wasser“, so Camilo Mortagua. Und nicht nur auf der Ebene der Produkte ist das Projekt innovativ. Im Vorstand der Vereinigung sitzt die Frau des Großgrundbesitzers Seite an Seite mit dem früheren Boß der Landarbeiter.

„Wir sind hier an einen Punkt gelangt, an dem wir uns nicht leisten können, auf irgend jemanden zu verzichten“, kommentiert Mortagua diese revolutionäre Neuerung. „Wir sind zu wenige und zu alt. Im übrigen hat sich in den vergangenen Jahren auch die Rolle der Großgrundbesitzer geändert. Wenn früher der Slogan hieß: ,Das Land denen, die es bearbeiten‘, so muß er heute heißen: ,Die, denen das Land gehört, sollen es auch bearbeiten‘.“