Interviw mit Dr. Michael Braungart zu seiner neuen Bleistudie

■ "Grenzwerte sind nur Politik"

„Grenzwerte sind nur Politik“

Dr. Michael Braungart (34) ist Chemiker und mit der niedersächsischen Umweltministerin Monika Griefhahn (ehemals bei Greenpeace) verheiratet. Braungart ist Leiter eines internationalen Umweltinstituts in Hamburg, das unter anderem für die UNO arbeitet und jetzt für Unicef die weltweit bisher umfangreichste Bleistudie erstellt hat, die der Wissenschaftler letzten Mittwoch der Öffentlichkeit vorstellte. Seine These: „Der größte Fehler ist, daß die Giftigkeit von Blei bei uns bisher falsch eingeschätzt wurde.“

taz: Was haben Sie erforscht?

Dr. Michael Braungart: Den Zusammenhang zwischen Erkrankungen von Kindern und Bleibelastung. In den USA sind heute Bleivergiftungen die bei weitem am häufigsten auftretende Kinderkrankheit, noch vor allen anderen schweren Kinderkrankheiten. Über 118.000 Kinder sind derzeit in den USA an einer Bleivergiftung schwer erkrankt und müssen klinisch behandelt werden. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs. Die Dunkelziffer ist viel höher. Wir schätzen, daß in den USA etwa ein Drittel aller Kinder durch Blei gesundheitlich beeinträchtigt ist.

Wie sehen diese Schäden aus?

Die Vergiftungen durch Schwermetalle führen zu Haarausfall, Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen, Entscheidungsschwächen, zu Antriebslosigkeit, Menschen entwickeln keine Initiative mehr, sie können nachts nicht schlafen, haben Knochenbeschwerden und teilweise auch Stoffwechselstörungen. Was uns noch Sorge macht, ist der rasante Anstieg von Alzheimer-Erkrankungen, der höchstwahrscheinlich auch auf Schwermetalle zurückzuführen ist.

Wie sieht die Situation in der Bundesrepublik aus?

Ähnlich. In den USA gibt es schon wesentlich länger bleifreies Benzin, eine geringere Bevölkerungsdichte und damit letztlich eine geringere Dichte von Giftquellen. Wir haben hier zusätzlich eine ganze Anzahl von Quellen, die es in den USA in dem Umfang nicht gibt, z.B. Zink in Wasserleitungen und bleihaltige Rohre. Und natürlich PVC: PVC enthält Blei, und die Bundesrepublik ist bei weitem weltweit der höchste Verbraucher von PVC.

Aber wir haben doch gesetzliche Grenzwerte?

Die Grenzwerte sind nur Politik. Die beziehen sich auf den gesunden, 70 Kilo schweren, 40jährigen Mann. Was die gesetzlichen Grenzwerte wert sind, zeigt das Beispiel Cadmium: Würden wir den Grenzwert von drei Mikrogramm pro Liter in der Nordsee erreichen, würde das das Ende der meisten Fischarten bedeuten.

Wie sieht der Bleiverbrauch heute aus?

Die weltweite Produktion an bleihaltigem Benzin ist heute höher als jemals zuvor. Und der Verbrauch steigt explosionsartig an. Viele Schwermetalle werden zudem nicht entsorgt, sondern Baumaterialien wie Zement beigemischt.

Wie wirkt sich das in der Zukunft aus?

Wenn wir so weitermachen, ist das ein Verbrechen an uns und unseren Kindern. Die Bleibelastung hat Grenzen erreicht. Noch in dieser Generation wird die Grundbelastung der Mehrheit der Bevölkerung in einem Bereich liegen, in dem wir für jeden meßbar Schäden feststellen können. Das gilt ihn ähnlicher Weise für Cadmium und Quecksilber. Die Schwermetallbelastung ist so wahnwitzig, daß das allein ein limitierender Faktor für die Menschheit sein wird. Wenn wir jetzt dazu die Kinder noch so massiv vorschädigen, dann potenziert sich natürlich die Wahrscheinlichkeit, daß diese Kinder später mal solche Krankheiten bekommen.

Wie kann man sich schützen?

Persönlich kann man wenig tun. Die Politiker müßten handeln und den Bleibergbau einstellen. Was ich aber allen Lesern ans Herz legen möchte: Werfen Sie keine Batterien weg, verzichten sie unbedingt auf Bleikristall. Bleikristall enthält das Tausendfache des Trinkwasser- Grenzwertes an Blei. Benutzen Sie keine Bleifarben. Wohnen Sie in einem älteren Haus, sprechen Sie Ihren Hauswirt auf bleihaltige Rohre an und lassen diese austauschen. Interview: Michael May