Florjan Lipus: Jugoslawien ist nicht länger möglich

In der Novelle „Brief aus dem Jahre 1920“ des Nobelpreisträgers Ivo Andric überbringt der Erzähler einen Brief seines Freundes Levenfeld nach ihrem ungewöhnlichen Treffen in der Bahnstation Slavonski Brod. Levenfeld sagt darin, daß in Bosnien und Herzegowina verhältnismäßig wesentlich mehr Menschen leben, die aus verschiedenen Motiven bereit sind, zu töten oder getötet zu werden, als in irgendeinem anderen slawischen oder nichtslawischen Land. Der Haß sei kein produktiver emotionaler Zustand in einem bestimmten geschichtlichen Augenblick, sondern eine selbständige, sich selber zugedachte Macht. Bosnien sei das Land des Hasses. Im Gegensatz dazu aber könne man ebensogut behaupten, daß es nur wenige Länder gibt, in denen man soviel festen Glauben, erhabene Charaktere, soviel Zärtlichkeit und Liebesfeuer, soviel tiefe Gefühle, Anhänglichkeit und Ergebenheit, soviel Durst nach Gerechtigkeit vorfindet wie in Bosnien.

Diese Worte wurden ausgesprochen nach dem Ersten Weltkrieg, aufgeschrieben nach dem Zweiten und bewahrheiten sich in diesen Tagen. Die irrsinnige Tragödie des Balkans besteht darin, daß niemand niemandem nichts verzeiht: nach fünf Jahren nicht wie nach fünfhundert nicht. Die Serben und Kroaten pflegen ihre gegenseitigen Feindschaften seit urewigen Zeiten und haben nie versucht, der Gegenseite zu vergeben. Allein die Bosnier bildeten eine Ausnahme: Sie bemühten sich, sich selber zu bezähmen, alle, Muslime, Katholiken und Orthodoxe, sich selbst zu ertragen, dem Haß zu entsagen, nur um das Leben erträglicher zu machen. Es ließ sich nicht, es läßt sich nicht.

Die Bosnier müssen am meisten leiden, obwohl sie das am wenigsten verdienen. Es gibt wenige Kriege, in denen eine Seite vollkommen unschuldig wäre, aber die bosnische ist zweifelsohne eine solche. Im Namen der „Seele des serbischen Volkes“ wird Bosnien terrorisiert. Ein Krieg wird geführt außerhalb aller Normen und Regeln, ohne jedwede Ethik und Zivilisation, wobei sich die Frage stellt, ob die Kämpfe nicht deswegen ausgebrochen sind, weil man es leid geworden ist, gegen sich selber zu kämpfen.

Nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie erfolgte die Vereinigung der Serben, Kroaten und Slowenen, und zwar auf Druck und auf der Grundlage der Ansichten eines einzigen dieser Völker: der Serben. Pasic 1918: „Serbien hat nicht die Absicht, in Jugoslawien unterzugehen, sondern Jugoslawien hat in Serbien unterzugehen.“

Die Bestrebungen der Kroaten und Slowenen sowie der Muslime, Jugoslawien in eine Föderation Gleichberechtigter umzuwandeln, schlugen fehl. Im und nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die KP die größten Verdienste für die Herstellung eines neuen Zusammenlebens der jugoslawischen Völker. Jedes Volk sollte das Recht auf Selbstbestimmung haben. Aus dem unitaristischen und zentralistischen Jugoslawien ist ein föderatives geworden.

Doch das reale und politische Leben im föderativen Jugoslawien war von einem volkssouveränen föderativen Konzept weit entfernt: Die führende politische Kraft, die KPJ, sah die nationalen Fragen nicht als entscheidend und formend an, sondern instrumentalisierte sie für die Verwirklichung der sozialistischen Revolution. Der zweite Grund war das Wiederaufleben des alten konservativen serbischen Nationalismus, der mit zentralistischem Druck die legitimen nationalen Forderungen der anderen Nationen ausschlug und ihre Souveränität mit Füßen trat.

Im serbischen Volk lebt das nationale Programm aus dem vorigen Jahrhundert, das sich auf den mittelalterlichen serbischen Staat beruft und auf der Forderung beruht, Serbien müsse sich vergrößern und ausbreiten, seine „historischen Rechte“ verwirklichen; es habe das Recht, im Namen aller Südslawen zu sprechen. Die anderen Völker haben diese Vorrangstellung zu akzeptieren, denn die Serben hätten als erste den Kampf begonnen und somit das Recht, ihn zu beenden.

Der Zerfall Jugoslawiens entsprechend den Ideen des Chauvinismus des 19.Jahrhunderts (die nationale Selbstbefriedigung sofort und um jeden Preis) hinterließ eine Armee ohne Staat, schuf private, freiwillige und Parteiarmeen neben den regulären, neben dem Sicherheitsdienst und der Polizei. In dieser Situation ist eben alles erlaubt, auch faschistische Methoden, einhergehend mit faschistischer Rhetorik und die Außerachtlassung jeder zivilisatorischen Errungenschaft der Menschheit. Die Nation allein erweist sich als feste Bindung zwischen den einzelnen Gesellschaftsschichten und Gruppen, der nationalistische Mythos entfernt alle inneren Unterschiede und verwirklicht die nationale Solidarität. Der Staat, die Nation wird alles, der Mensch wird nichts.

Auch für Mussolini war der Staat „die Inkarnation der Nation“: an der Spitze ein Führer, der den Willen der Nation in sich vereinigt und mit dem sich der Kleinbürger, aus der massenpsychologischen Situation heraus, eins fühlen kann. Die heutigen serbischen Stereotypen wie „Unser Volk ist das Opfer“ oder „Unsere Heimat ist bedroht“ erinnern mich an solche in Österreich vor einem halben Jahrhundert ebenso wie heute. Instinkte werden geweckt, moralische Abgestumpftheit wird geschaffen, der Revanchismus kann um sich greifen, der Geist der Toleranz wird unterdrückt.

In diesen Zustand schlittert Serbien seit den siebziger Jahren, als Reformen hintangehalten wurden, obwohl die materiellen Voraussetzungen dafür vorhanden und die menschlichen Bedürfnisse gestiegen waren. Das liberale und demokratische Serbien wurde systematisch verhindert. Milosevic kam an die Macht, das Liebkind auch jener außerhalb Serbiens, die wünschten, nach Tito möge er Tito sein.

Serbische Politiker verwiesen auf die Gefahr des islamischen Fundamentalismus, von dem das christliche Europa bedroht werde. Die serbische Orthodoxie sei deshalb das letzte Bollwerk gegen diese Gefahr. Der expansionistische serbische Nationalismus sah seine Stunde gekommen, um alle Serben in einem Staat zu vereinen. Als erstes sollte Slowenien beseitigt und halb Kroatien amputiert werden. Die Slowenen haben, weil wirtschaftlich besser situiert, das ehemalige Jugoslawien am Leben erhalten und somit ihre Unterdrückung selber finanziert.

Der Zerfall des Kommunismus hat Jugoslawien unvorbereitet getroffen. Die Neuordnung in Europa, deren wirksamste Erscheinung der Fall der Berliner Mauer, dieses großen Symbols und Mythos', war, führte in Serbien zu vereinfachenden Schlüssen, daß nämlich heimlich ein „Viertes Reich“ entstehe, es zu einer germanischen Verschwörung komme, deren Ziel es sei, die Niederlagen des Zweiten Weltkriegs zu annullieren und eine neue Weltmacht aufzurichten.

So erhielt allein der Begriff der Neuordnung in der serbischen Sprache eine negative Färbung. Insgeheim ist damit eine „antiserbische Verschwörung“ gemeint, in der sich alle wahren und vermeintlichen Gegner Serbiens vereinigt hätten. Solch eine Anklage, geboren in den Hirnen der höchsten Autoritäten der Republik Serbien, bedeutete, daß jede Diskussion und Analyse dieser dämonischen Neuordnung überflüssig ist. Der Krieg hat sie auch nicht aufkommen lassen.

In dieser Neuordnung kam Serbien gar keine Rolle zu. In den führenden politischen Kreisen Serbiens wurde nicht einmal der Wunsch vernommen, sich in dieser Neuordnung der Konkurrenz zu stellen und sich um eine Rolle zu bemühen. Dagegen war sehr wohl eine starke Nostalgie zu spüren, späte Trauer für die Blockordnung. Das Hervorheben des katholischen Charakters des Westens gegenüber der östlichen Orthodoxie suggerierte Serbien das Entstehen neuer ideologischer und militärischer Blöcke. Aus dem Winkel der Geschichte erkannte Serbien nicht, daß dieser Zug längst abgefahren war, denn was sollte ein orthodoxer Block ohne Rußland, das sich bald in der EG oder gar in der Nato finden wird?

Alle Reformversuche der letzten Jahrzehnte in Serbien mißlangen. Keiner der Mächtigen wollte das Wagnis der Veränderung eingehen. In Anbetracht der Tatsache, daß alle Anschlüsse für einen kontinuierlichen Übergang versäumt wurden, ist nun der Übergang von einem System zum anderen sprunghaft und sind die Folgen krampfhaft und dramatisch.

Dieser Zustand aber ist auch die Folge der Europapolitik, denn dafür, daß nach dem Zweiten Weltkrieg das bekannte Jugoslawien entstand, war der Segen der Großmächte notwendig. Auch in der Nachkriegszeit ließ das Spiel der Großmächte in diesem Teil Europas manches zu. Ganz Europa schaute weg, als die Albaner im Kosovo von den Serben systematisch ihrer Menschenrechte beraubt wurden. Die europäische Finanzhilfe wurde nie von demokratischen Reformen abhängig gemacht. Somit ist die verfahrene jugoslawische Krise die Frucht auch des europäischen Desinteresses und der internationalen strategischen Geographie.

Große Völker in Europa haben ihre Existenz bereits gesichert und in einem bestimmten Sinne ihre geschichtliche Aufgabe erfüllt. Kleine Völker, unterdrückt und hineingezwängt in multinationale Staaten, sind mit ihrem Status aus vitalen geschichtlichen Interessen nicht zufrieden. Insofern fügen sich die jugoslawischen Veränderungen nahtlos in die der osteuropäischen Bewegungen ein.

Der Krieg hat einen einzigen Sinn, nämlich der Welt zu beweisen, daß Jugoslawien nicht länger möglich ist. Der einzig mögliche Ausweg der jugoslawischen Völker besteht darin, auseinanderzugehen, sich mit einer Mauer zu umgeben; für einige auch, ins Mittelalter zurückzukehren. Der Ausweg aber ist solange keine Lösung, solange jeder Tod für hundert Jahre Haß steht. Die Verblendung der Verantwortlichen, die verhindert, daß ein politischer, wirtschaftlicher und sozialer Weg gefunden wird, die Unfähigkeit, das Irrationale vom Rationalen zu trennen — das sind keine Rahmenbedingungen für Befreiung.

Selbst die Serbische Akademie der Wissenschaften und Künste, welche den nationalen Höhepunkt der Redlichkeit, Ehrenhaftigkeit, Wahrhaftigkeit und nicht zuletzt des logischen Denkens bilden sollte, ließ sich von Milosevic kritiklos vor den Karren der großserbischen nationalistischen Politik spannen. Alle Serben in einem Staat, denn Jugoslawien wolle das serbische Volk vernichten, fordern die serbischen Akademiker. Das besagte Memorandum aus dem Jahre 1991 beinhaltet neben wahren Fakten eine Menge von verzerrten Wahrheiten, Unterstellungen, Augenverschließen vor Tatsachen, Doppelzüngigkeiten und einige direkte Lügen. Viele Wahrheiten wurden verschwiegen, die, falls man sie erwähnt hätte, die Behauptungen der serbischen Akademiker auf den Kopf gestellt hätten.

Namhafte Schriftsteller nehmen einen niederen literarischen Standard in Kauf und scheinen das unbarmherzige Vernichten von Kulturdenkmälern, das barbarische Morden der stalinistischen Generäle, einhergehend mit dem pathologischen Haß gegen alles, was an westliche Zivilisation erinnert, gutzuheißen. Sie scheinen damit einverstanden zu sein, daß eine Gruppe finsterer skleroser Greise die Jugend geistig verkrüppelt und moralisch zugrunde richtet, ihr Granaten statt Bücher in die Hände drückt.

Doch am Krieg und Zerfall Jugoslawiens hat nicht nur Serbien teilgenommen. Nur dank internationalen Einflusses ist Kroatien auf dem Weg zur Demokratie, denn es erkaufte sich die Anerkennung mit der Verwirklichung der Forderungen der internationalen Gemeinschaft: Was die Serben in Kroatien jahrelang erfolglos verlangt hatten, erhielten sie jetzt, nach Europas Intervention, mit dem Gesetz über die Minderheitenrechte, in einem noch größeren Rahmen.

Die Übertragung der Verantwortung für den Krieg sowie aller Folgen auf Serbien allein würde die Kräfte der unzufriedenen Schichten und den Irredentismus stärken und das andere Serbien, das liberale und demokratische, das sich aber auch nicht außerhalb des Nationalismus und Chauvinismus bewegt, endgültig begraben. Aus der Verworrenheit der Situation heraus kann niemand sagen, ob dieser balkanische Wahnsinn in eine neofaschistische Diktatur mündet oder ob dies alles nur eine Einbegleitung, ein Übergang zur Demokratie ist.

Morgen folgt in unserer Reihe „Europa im Krieg“ Lothar Baiers Erwiderung auf Dunja Melcics Polemik „Der Bankrott der kritischen Intellektuellen“ (taz vom 15.August).