Die Hoffnung trägt den Namen „Visa“

In der vergangenen Woche wurde 163 Flüchtlinge aus Bosnien am böhmisch-sächsischen Grenzübergang die Einreise nach Deutschland verweigert/ In der Grundschule einer nordböhmischen Kleinstadt fanden sie eine vorläufige Unterkunft  ■ Aus Krupka Detlef Krell

Touristen fahren nach Krupka, in die nordböhmische Kleinstadt zwischen Teplice und Decin, um im Erzgebirge zum „Mückentürmchen“ zu wandern oder sich die prunkvolle, barocke Wallfahrtskirche anzuschauen. An den Hängen der sich lang hinziehenden Stadt stehen die üblichen Betonplattenbauten. Die altstädtischen Häuserzeilen müßten saniert werden.

13.500 Menschen leben in Krupka. Seit einer knappen Woche sind es 163 mehr. Sie reisten nicht als Touristen ins Erzgebirge. Die Frauen, Kinder und Männer sind auf der Flucht vor dem Krieg. Sie kommen aus Bosnien und wollen nach Deutschland. Dort leben Verwandte, dort haben einige jahrelang gearbeitet. Doch als die Flüchtlinge in der vergangenen Woche den böhmisch-sächsischen Grenzübergang erreichten, wurden sie von den Behörden zurückgeschickt, weil sie keine Einreisevisa für Deutschland vorweisen konnten. Nur eine Einladung hatten sie, von der Heilig- Kreuz-Kirche Berlin und SOS Rassismus. Die Heilig-Kreuz-Gemeinde in Berlin Kreuzberg hatte versucht, die Gesamtgruppe mit einer Einladung nach Berlin zu holen, scheiterte bisher jedoch an der Hartleibigkeit des Bundesinnenministeriums und dem Problem, eine Krankenkasse zu finden, die bereit ist, die Flüchtlinge zu versichern. Die Bundesregierung besteht auf der strikten Einhaltung des Paragraphen 84 des Ausländergesetzes. Danach wird das auf sechs Monate befristete Visum nur dann erteilt, wenn der Gastgeber die Lebenshaltungs- und Krankenkassenkosten übernimmt. Die Heilig-Kreuz-Gemeinde versucht nun händeringend, eine Krankenkasse und eine Kompromißlösung mit dem Berliner Senat und dem Land Brandenburg zu finden.

Die Flüchtlinge campierten zunächst „unter katastrophalen Bedingungen“ im Grenzwald, bis sie von den tschechischen Behörden in die Grundschule von Krupka gebracht wurden. Vor dem schneeweißen Haus sitzen Frauen im Kreis. Sie unterhalten sich leise. Ausgelassen bewegen sich nur die Kinder, zu denen sich bereits Gleichaltrige aus dem Ort gesellt haben. Auf der Freitreppe, die in das dreistöckige Gebäude führt, verteilt jemand Erinnerungsfotos. Den Fremden begrüßen sie zurückhaltend, fast scheu. Menkovic Sumra, die Dolmetscherin, sei heute unterwegs bei den Behörden. Heute abend, vielleicht wisse sie dann, wie es weitergehe mit dem Visum. Ein Mann mit Baskenmütze weist auf die Leute und auf die Schulpforte. Ja, dort leben sie nun, und es sei alles gut hier. Er bittet ins Haus, weist den Weg zur Turnhalle und beruhigt seine Landsleute. Nur die Presse sei gekommen, kein Grund zur Sorge.

In der Turnhalle und den Umkleideräumen ist jeder Winkel, jeder Meter als Lagerstatt genutzt. Eine junge Frau wiegt ihr Baby, eine andere tröstet ihr schreiendes Kind mit einem Plüschtier. Junge Männer sinnieren neben ihren schlafenden GefährtInnen; schlafen, grübeln, warten, so vergeht hier der Tag. Ein kräftiger Mann um die 50 erhebt sich und sagt in gebrochenem Deutsch, „vielleicht in drei Tagen, vielleicht in zehn Tagen“ könnten sie weiter — nach Deutschland. Er heißt Delic Alijo, stammt aus dem Dorf Skocic Trsic. Die Serben, erzählt er, haben alle 1.800 Leute aus dem Dorf vertrieben. Mit dem Bus seien sie weggebracht worden, dann mit dem Zug. Er zeigt auf einen kleinen Koffer. Darin sei alles, was er und seine Frau mitnehmen konnten. Bevor der Krieg begann, hatte er beim Autobahnbau gearbeitet, die Frau in einer Schuhfabrik. „Vielleicht dauert der Krieg noch einen Monat oder noch sechs Monate. Wir wollen solange in Deutschland arbeiten, etwas Geld verdienen, und wenn der Krieg zu Ende ist, möchten alle hier“, und er weist in die überfüllte Halle, „wieder nach Hause. Aber wo sollten wir jetzt hin? Wir haben nichts mehr!“ Ein anderer Mann ist hinzugekommen. Dessen Frau und drei Kinder, berichtet der Ältere, sind in einem serbischen Lager. „Viele haben noch Angehörige zu Hause. Sie sorgen sich um deren Leben.“

Alle Hoffnungen dieser Menschen liegen in dem Wort „Visa“. Von der Fürsorge der Tschechen sprechen sie voller Hochachtung. „Wir haben hier alles, die Tschechen sind sehr gut. Genug zu essen, neue Kleidung, die Kinder bekommen Schokolade, die Frauen Kaffee, die Männer Zigaretten. Aber wir müssen hier heraus, denn die Schule beginnt wieder. Wenn wir noch nicht nach Deutschland dürfen, müssen wir in ein anderes Heim umziehen“, erklärt Delic Alijo für die Gruppe, in der sich Flüchtlinge, „wir sind alle Mohammedaner“, aus mehreren Orten zusammenfanden. Unter ihnen sind 55 Kinder im Alter von einem Monat bis zu 14 Jahren.

Schuldirektorin Vera Strnadov arbeitet in ihrem eigenen Vorzimmer. Sie hat den Kopf voll mit dem bevorstehenden Schulanfang, und ihr Büro ist voll mit Spenden für die Flüchtlinge. Aus der Ruhe läßt sich die Frau von dem Trubel nicht bringen. „Wir versuchen, diese Menschen möglichst gut zu betreuen. Firmen aus der Region haben Spenden abgegeben, auch Bürger kommen und bringen Sachen mit. Aus Deutschland kamen Spenden von der Caritas in Berlin und Freiberg.“ Und wieder geht die Tür auf, zwei Frauen aus Krupka bringen Spielsachen und Kinderkleidung. Im Klassenzimmer nebenan werden die Rucksäcke ausgepackt. Während die Mütter dankbar in den Jacken, Hosen und Kleidern blättern, flitzen die Kinder mit Händen voll Puppen und Autos die Treppe hinab, ins Freie.

Bürgermeister Karel Rieger rechnet mit einem längeren Aufenthalt der bosnischen Gäste. Er hat schon ein Ausweichquartier gefunden und Gelder kanalisiert. 36 Millionen Kronen zählt der Haushalt von Krupka; ein Drittel davon geht in die öffentliche Verwaltung. „Aus diesem Fonds zweigen wir etwas für die Flüchtlinge ab. Aber den Großteil der Kosten trägt Prag.“ Am Tisch der tschechischen Regierung wird auch bald über den weiteren Weg der 163 Bosnier entschieden werden müssen, wenn der reiche Nachbar im Norden die Tür verschlossen hält. Konflikte im Ort? Der Bürgermeister lächelt verständnislos. „Was für Konflikte? Die Bosnier können sich hier wie alle anderen in der Stadt bewegen.“