Lothar Baier: Die Lieben und die Bösen

■ Replik auf Dunja Melcics Artikel „Der Bankrott der kritischen Intellektuellen“ (taz vom 15.August 1992)

Wäre ich in der Lage von Dunja Melcic, das heißt, hätte ich Freunde und Verwandte, um deren Leben ich bangen muß, sähe ich Städte, die mir einmal lieb gewesen sind, in Schutt und Asche sinken — ich weiß nicht, von welchen Gefühlen ich gebeutelt würde beim Anblick der geschwätzigen und gutgelaunten Gleichgültigkeit, die einem überall in dieser mit ihren Verdauungsschwierigkeiten beschäftigten Bundesrepublik entgegenschlägt.

Die Wut, die aus ihrem Artikel spricht, kann ich sehr gut verstehen. Ich kann auch verstehen, daß sie sich vor allem gegen die Leute richtet, mit denen sie sich, nehme ich an, bisher in gewisser Weise verbunden fühlte und von denen sie etwas mehr erwartet hat als hilfloses Gestammel im Angesicht der auf dem Balkan entfesselten Gewalt. Dunja Melcic spricht vom „Bankrott der kritischen Intellektuellen“, und ich wäre der letzte, der ihr da widersprechen wollte. Ich frage mich nur, ob man bis zum Ausbruch der jüngsten Kriege hat warten müssen, um festzustellen, „wie sehr man sich über die Möglichkeiten intellektuellen Einflusses auf die Politik täuschte“, wie sie schreibt. In Frage steht nicht nur dieser Einfluß, sondern, denke ich, das Vorhandensein einer „kritischen Intelligenz“ überhaupt.

Deren Bankrott stellt Dunja Melcic ein für sie leuchtendes Beispiel gegenüber. Verglichen mit der Situation in dem Land, „das die Kategorie des engagierten Intellektuellen geboren hat“, Frankreich nämlich, erscheint ihr die deutsche Lage noch trostloser. Gefühlsmäßig stimme ich ihr da sehr gern zu, nur weiß ich zugleich, daß der Vergleich mit Frankreich leicht zu falschen Schlüssen führt. Die politischen Kulturen beider Länder sind völlig verschieden. Frankreich ist ein zentralisiertes Land, es hat einen nationalen Minister für Kultur, seine Präsidenten und Regierungsmitglieder möchten alle gern als Intellektuelle gelten, zumindest lieben sie es, sich mit Intellektuellen zu umgeben und sich von ihnen anerkannt zu sehen. Der Weg vom heimischen Schreibtisch zum Ministerkabinett oder Beraterbüro kann sehr kurz sein: Es kommt auch vor, daß Intellektuelle im Regierungsauftrag auf Reisen geschickt werden, zum Beispiel in die Länder des befreiten Osteuropa, wie es nach 1989 geschah. Das alles ist in der Bundesrepublik aus vielen Gründen undenkbar: Nachdem der Versuch eines Dialogs zwischen Kanzler Schmidt und ein paar Intellektuellen seinerzeit schiefgegangen war, hat niemand einen zweiten Anlauf unternommen. Helmut Kohl schert sich einen Dreck um Intellektuelle und um sein Renommee in ihren Kreisen. Ich weiß nicht, ob man diesen Zustand unbedingt beklagen muß.

Es gibt auch in Frankreich nachdenkende und schreibende Leute, die sich fragen, ob die kurzgeschlossene Verbindung zwischen einigen prominenten Intellektuellen und den Regierungsbüros samt Fernsehstudios wirklich einen intellektuellen Einfluß auf die Politik garantiert, oder ob sie nicht vielmehr dazu dient, Intellektuelle politisch zu funktionalisieren und sie dafür mit Anerkennung und Prominenz zu entschädigen. Ich kann das nicht entscheiden, ich kann nur soviel sagen: Ich kenne in Frankreich eine Reihe von Intellektuellen, die auf größtmögliche Distanz zur Staatssphäre achten, die durch ihre Arbeit wirken wollen, und nicht nur öffentliche Auftritte, und die sich durch die Handvoll häufig im Fernsehen erscheinender Prominenter überhaupt nicht repräsentiert sehen.

Dunja Melcic unterliegt einer optischen Täuschung, wenn sie die Namen Glucksmann, Lévy und Finkielkraut als repräsentativ fürs französische Ganze zitiert. Ich wenigstens begegne unter Freunden in Frankreich und in öffentlichen Reaktionen auf die Schreckensmeldungen vom Balkan vor allem Ratlosigkeit, Desorientierung, unbeantworteten Fragen und entsetztem Schweigen, allerdings ohne die in Deutschland übliche Begleitmusik aus Eiferertum und Fundamentalbekenntnis. Deshalb ist mir die französische Form der Ratlosigkeit wesentlich lieber als die deutsche, wenn sie auch genausowenig hilft, das Schießen in Sarajevo und Mostar und anderswo zu beenden. Helfen flammende Bekenntnisse zu Freiheit, nationaler Souveränität und Menschenrechten aber mehr?

Es gibt nun Beobachter, die dem Zustand quälender Ungewißheit, hervorgerufen durch fehlende, sich widersprechende, erklärungsbedürftige, aber nicht erklärte Informationen, dadurch ein Ende setzen, daß sie sich entschlossen auf eine Seite schlagen. Von dort aus wird das Schlachtfeld endlich wieder übersichtlich. Der von Dunja Melcic genannte Alain Finkielkraut zum Beispiel hat von Beginn des Konflikts an für die Kroaten Partei ergriffen, und zwar so penetrant, daß ihm in Frankreich dafür der häßliche Spitzname „Finkielkroat“ angehängt wurde. Das heißt soviel: Als analysierender Beobachter wird er nicht mehr ernstgenommen, weil man sowieso weiß, was hinterher herauskommt. In immer neuen Varianten werden die Serben, als sei das eine einsam erkämpfte neue Erkenntnis, als die Bösen und die Täter identifiziert und die Kroaten als die Lieben und die Opfer in Schutz genommen. Das mag zwar Kroaten gefallen, hilft Außenstehenden aber nicht, irgendeinen Faden des fürchterlichen Knäuels genau zu erkennen, weil sich der Parteiergreifende ständig genötigt sieht, Nebel um sich zu verbreiten, damit die weniger lieben Seiten seiner Partei bedeckt bleiben. Wenn dann das Rote Kreuz berichtet, daß nicht nur in den Lagern der Serben, sondern auch in denen der Kroaten und der muslimischen Bosnier gehungert, gefoltert, vergewaltigt und erschlagen wird, beginnt ein Winden und Wenden, das nur zum Lachen wäre, schrie das Leiden, das sich hinter den Wörtern verbirgt, nicht zum Himmel.

Zum Lager der Lieben werden seit kurzem die muslimischen Bosnier gerechnet; vorher wußte man nicht recht, was man mit ihnen anfangen soll. Im Herbst 1989, während in Berlin die Mauer fiel, unterzeichneten prominente Intellektuelle, darunter Alain Finkielkraut und Régis Debray, einen dringenden Appell an den Erziehungsminister und an die Lehrer Frankreichs, dem islamischen Fundamentalismus den Weg zu versperren. Der hatte sich nämlich laut dem Aufruf in Form von Kopftüchern eingeschlichen, die drei nordafrikanische Mädchen in die Schule getragen hatten. Die Kopftücher wurden zwar kurze Zeit später wieder abgelegt, aber sie gelten seither als Emblem der fundamentalistischen Streitmacht, die die Republik bedroht. In den Straßen Sarajevos aufgenommen, verwandeln sich die islamischen Kopftücher wundersamerweise in Symbole der Freiheit, der Aufklärung, der Menschenrechte. In der taz vom 10.August wurde das „kleine friedliebende moslemische Volk“ der Bosnier gewürdigt und seine Rettung zum „Akt der europäischen Selbstbehauptung“ erklärt. Mir wäre schon recht, wenn vor der großen rhetorischen Rettung eine kleine Ausnüchterung stattfände, in der dann die einfache Erkenntnis Gehör fände: Nicht nur der gesunde Menschenverstand ist das unter den Völkern der Erde am gleichmäßigsten verteilte Gut, sondern auch die Fähigkeit zu foltern, zu vergewaltigen, zu massakrieren. Verschieden sind allerdings die Hindernisse, die dem Ausleben dieser Fähigkeit im Wege stehen: Von Natur aus „friedliebende Völker“ gibt es nur in der Propaganda.

Ich sehe nicht recht, wem das wortgewaltige Parteiergreifen, das Dunja Melcic vorbildlich findet, helfen soll; ich sehe nur, wem es nützt, und das sind in erster Linie die betreffenden Intellektuellen selber. Mit jedem neuen Parteiergreifen steigt ihr Bekanntheitsgrad, und gleichzeitig geraten frühere Parteinahmen, die in gewissem Widerspruch zur gegenwärtigen stehen und die Glaubwürdigkeit beeinträchtigen könnten, in Vergessenheit. Wer aufs falsche Pferd gesetzt hat, kommt leichter darüber hinweg, wenn er möglichst laut auf neue Pferde setzt. Ich meine damit nicht das aus bereits grau gewordener Vorzeit stammende Setzen auf Mao und Pol Pot. Ich denke an noch gar nicht lange zurückliegende, stets im Namen der Freiheit verkündete Parteinahmen, die heute, bei offensichtlich stark veränderter Lage, die eine oder andere Nachbemerkung erforderten.

Dunja Melcic benutzt die merkwürdige, von jedem zweiten Journalisten wiederholte Formel vom „Krieg in einer Flugstunde Entfernung von Zentren Westeuropas“, so als sei das schon ein Argument für irgendetwas. Verliert ein Bürger- und Stammeskrieg etwas von seinem Entsetzen, wenn sein Schauplatz sechs oder acht Flugstunden entfernt liegt? Sehr spärliche Nachrichten lassen darauf schließen, daß in Afghanistan ein mörderischer Krieg tobt, dem offenbar zahlreiche Zivilpersonen zum Opfer fallen. Mit den heute auf Frauen und Kinder schießenden Kämpfern der rivalisierenden Fraktionen hatten sich westliche Freiheitsfreunde seinerzeit gern vor der Kamera gezeigt, auch von Bernard-Henri Lévy, bekleidet mit Burnus und Turban, umgeben von kampfbereit strahlenden Mudschaheddin, wurden damals malerische Aufnahmen verbreitet. Ich erwarte ja gar nicht, daß jemand nun die zweifellos riskante Reise nach Kabul und Umgebung antritt, um auf seine Freunde von damals einzuwirken, sie an das damalige Bekenntnis zu den Menschenrechten erinnernd, aber ich fände es ganz schön, hier und dort auf ein Zeichen von selbstkritischer Nachdenklichkeit zu treffen. Statt dessen kommt die neueste, wiederum flammende Parteinahme, diesmal für die Sache der muslimischen Bosnier; zum Nachdenken über das letzte Engagement bleibt da einfach keine Zeit, und das Publikum hat es sowieso längst vergessen.

Im Unterschied zu Dunja Melcic, die sich verständlicherweise über jede Form von Anteilnahme freut, gleichgültig, wie sie motiviert sein mag, sehe ich nichts besonders Nachahmenswertes in den Interventionen Finkielkrauts und Lévys — abgesehen davon, daß in der Bundesrepublik, wie schon gesagt, mangels direkter Transmission zwischen Intellektuellen und Staat plus Medien diesem Vorbild gar nicht nachgeeifert werden könnte. In Frankreich selbst stöhnen mittlerweile viele unter der Inflation von Partei- und Stellungnahmen, die die Kanäle verstopfen, Slowenen-Kundera, Kroaten- Finkielkraut, Bosnier-Lévy, jedem sein Marktanteil an balkanischen Lieben und alle gegen die Bösen in Belgrad, vermissen aber schmerzlich historische Dokumentationen, die etwas erklären, und Analysen des Konflikts, die sich nicht wiederum der von den Konfliktparteien selbst benützten ideologischen Sprachen bedienen. Im Kampf der donnernden Schlagwörter bleibt zuallererst der Sinn für Unterscheidungen auf der Strecke, und zwar der Unterscheidungen jenseits der bequemen Aufteilung in Freund und Feind, Liebe und Böse.

In diesem Sinn erscheint mir György Konráds für diese taz-Serie geschriebener Beitrag viel hilfreicher als die zitierten französischen Interventionen. „Es kommt vor“, schreibt er, „daß Nicht-Handeln und Nicht-Parteiergreifen von mehr Weisheit zeugt als Handeln und Parteiergreifen für eine Konfliktpartei.“ Denn wenn man schon das Privileg hat, den Kopf nicht hinhalten zu müssen, sollte man denselben wenigstens einigermaßen kühl halten. Ich nehme Konráds Überlegungen deshalb besonders ernst, weil sie von einem sachkundigen Anrainer der Kriegsregion angestellt sind, der dabei Distanz zu allen Parteien hält. Konrád macht auf einen fundamentalen Widerspruch in den schönen Reden von der Garantie der Menschenrechte im endlich souveränen ex-jugoslawischen Nationalstaat aufmerksam: „Ein und derselbe europäische Mund kann nicht zwei verschiedene Melodien pfeifen. Er kann nicht die Menschenrechte befürworten und gleichzeitig politische Bestrebungen unterstützen, aus denen notwendigerweise die Verletzung der Menschenrechte resultiert.“ Der Fetisch nationale Selbstbestimmung, hineingetragen in gemischte Siedlungsgebiete, und fertig ist die explosive Mischung. Nur sind es nicht die Häuser der Nationalstaatstheoretiker, die dabei in die Luft fliegen.

Es hat dagegen wenig Zweck, wie Dunja Melcic es tut, sich über diesen Widerspruch hinwegzumogeln, das Vorhandensein nationalistischer und separatistischer Leidenschaften im nichtserbischen zerfallenen Jugoslawien rundweg abzustreiten und dem allen das schöne Etikett „Freiheitsstreben“ aufzukleben. Was hat nicht schon alles den Namen „Freiheitsdrang“ getragen in diesem Jahrhundert! Sie folgen ja alle nur dem Freiheitsdrang, wenn sie, einschließlich der expansionistischen Serben, ihre Nachbarn anderen Glaubens und anderer Zunge abmurksen, um sich im glücklich homogenen Nationalstaat frei entfalten zu können. Ich respektiere Dunja Melcics Zorn, ihre zornige Lagebeschreibung jedoch überzeugt mich überhaupt nicht. Sie deklamiert einerseits zu viel und läßt andererseits zu viel aus. Bei Paul Parin und bei György Konrád dagegen ist mir manches Licht aufgegangen.

Nicht nur vom „Wahnsinn Europa“, ähnlich wie Konrád, sondern auch vom „europäischen Haus“ hat einmal ein kritischer Beobachter gesprochen, und zwar Kurt Tucholsky, vor sechzig Jahren. Der Wahnsinn für ihn war die nationale Souveränität. „Europa ist ein großes Haus“, schrieb er 1932 in der Wiener Ausgabe der Weltbühne. „Seit wann darf eine Mietspartei im zweiten Stock ein Feuer anzünden und dann abwehrend rufen: ,Mischt euch nicht in meine Verhältnisse! Das ist meine Wohnung!‘? Jede Mietswohnung ist Bestandteil eines Hauses — jedes europäische Land ist ein Bestandteil Europas.“

Das europäische Haus hat inzwischen abgewirtschaftet. Dafür vermehren sich die Mieter, die gern bei sich Feuer machen, und wenn auf der Etage auch ein paar Aftermieter dran glauben müssen, sind jetzt fast alle national und souverän, mit Stempel des europäischen Hausverwalters versehen. Vielleicht hat es tatsächlich keinen Sinn, den Freunden des Feuers am Verhandlungstisch die Freude am Zündeln auszureden, solange man ihnen nicht mit der großen Löschkanone drohen will. Aber versuchen muß man es trotzdem, denke ich: Wer dem Feuermachen als Ausdruck von Freiheitsdrang applaudiert, schafft jedoch noch ein paar Kanister mehr ins Haus. Als wäre alles nicht schon entsetzlich genug.

16.August 1992