GASTKOMMENTAR
: Volksverdrossenheit

■ Des Grafen Lambsdorff Untergangsvisionen werden niemanden vom Hocker reißen

Otto Graf Lambsdorff befleißigt sich in seinem „Mut statt Mißmut“-Papier einer seltenen Übung: direkte Rede über wirkliche Probleme in realistischer Dimension. Das spricht ebenso für ihn wie die halbautomatischen Reaktionen seiner Gegner.

Mit „Rettet den Sozialstaat“-Parolen kommen sie dem Spezialisten für die Grenzen des Wohlfahrtsstaats nicht bei. In gnadenloser Ausführlichkeit zählt Graf Lambsdorff auf, was seiner Meinung nach in Zukunft alles nicht mehr geht. Er trifft damit durchaus eine Stimmung in der Bevölkerung. Die weicht schon seit geraumer Zeit in vorauseilendem Ungehorsam den Schlägen aus, die noch gar nicht gekommen sind. An den Stamm- und Küchentischen ist längst die Rede von Blut (Kampfeinsätze), Schweiß (mehr Arbeit) und Tränen (weniger Geld).

Dennoch wird die Lambsdorffsche Philippika weniger Wirkung haben als das Wendepapier vor zehn Jahren, obwohl die Lage heute weitaus ernster ist als damals. Das liegt sicher nicht allein am Koalitionsmonopol, daß die FDP der Union augenblicklich gewähren muß; es liegt auch nicht nur daran, daß der FDP-Vorsitzende gerade in die Belanglosigkeit seines letzten Amtsjahrs geht. Der Hauptgrund ist ein anderer: So verwöhnt und blind ist das Volk denn doch nicht mehr, um auf des Grafen „nun reißt Euch endlich zusammen, faules Sozipack!“ noch allergisch zu reagieren.

Wenn alle wissen, es kommt sehr hart, was soll dann die drohende Gebärde? Die gegenwärtige Besitzstandsblockade verdankt sich schließlich nicht nur der Verwöhntheit der Wessis und dem Anspruchssozialismus der Ossis, sondern auch dem Zweifel, ob beispielsweise mit höherer Eigenbeteiligung der Patienten das Gesundheitssystem überhaupt zu retten ist; ob die Rente sicherer wird, wenn die Jüngeren noch mehr zahlen müssen und so weiter. Da braucht es neben Ausgabendisziplin und Opferbereitschaft eben politische Phantasie und Radikalität. Die findet sich auch beim FDP-Vorsitzenden nicht. Er sieht lauter neue Herausforderungen, möchte aber unverdrossen an „die Politik marktwirtschaftlicher Erneuerung in den 80er Jahren anknüpfen“.

Zusammenreißen der Politiker bringt dann genausowenig wie dem Volk die Parteienverdrossenheit heimzuzahlen. Im Papier des Grafen wird kräftig zurückverdrossen: „Das Ansehen von Politikern und Parteien ist auf dem Nullpunkt. Trotzdem erwarten viele Bürger mehr denn je eine allzuständige Problemlösungskompetenz der Politik.“

Und dann wollen die ganzen Besserwisser nicht mal selbst in der Politik Hand anlegen, klagt der Graf.

Als vom Volk enttäuschter Liberaler versucht er den mittelfristigen ökonomischen Eigennutz gegen den kurzfristigen in Stellung zu bringen. Er traut dem Verfahren aber selbst nicht recht und droht mit ökonomischen Zusammenbrüchen. Offenbar müssen die Ökonomen noch lernen, was die Ökologen schon wissen: Mit der Apokalypse läßt sich nicht gestalten. Man verändert damit Haltungen, aber nicht Verhalten. Ansonsten bleibt ihm nur das nationale Motiv — die Einheit als quasi-idealistische Motivation für Opferbereitschaft. Wer's glaubt.

Das alles treibt ins Autoritäre, weil es nur mit der Strenge mehr Wirkung erzielen kann. So wird man die Deutschen nicht rumkriegen. Schließlich ist es immer nur des Volkes einer Hälfte das Wichtigste, stark und diszipliniert zu sein. Die andere Hälfte möchte gut sein und geliebt werden. Für die hat er nichts, weil er immer noch ökologischer Autist ist. Die Umwelt bekommt auf 18 Seiten gerade eine halbe. Ökologie ist in seiner Philippika eher etwas, worauf, nicht etwas, zu dessen Gunsten man verzichtet. Dennoch wäre nur die Rolle des ökologischen Leithammels etwas, das der anderen Hälfte der Deutschen ein wenig Idealismus und Verzicht wert sein könnte.

Möglicherweise endet die Besitzstandsstarre im Krieg der Segmente. Mit den Konzepten der 80er Jahre — nur härter — wird man das jedenfalls nicht verhindern können. Bernd Ulrich

Der Autor lebt als freier Publizist in Köln