KOMMENTAR
: Kreuzzug für die Familie!

■ Das Wahlkalkül der Republikaner ist zwar durchsichtig, aber keineswegs dumm

Irgendjemand muß auf diesem Parteitag Babys vermietet haben. Selten waren auf einer politischen Veranstaltung soviele schlafende, strampelnde, krabbelnde oder nuckelnde Säuglinge vor die Kameras geraten wie in Houston bei den Republikanern. Damit wurde dem Wahlvolk daheim vorm Fernseher noch einmal visuell demonstriert, wo die Republikaner in der Frage der Abtreibungsfreiheit stehen: Auf der Seite der sogenannten Lebensschützer. Delegierte mit abweichender Meinung zu diesem Thema hat man schon im Vorfeld des Parteitages mundtot gemacht. Der Vollständigkeit halber: Auch in New York auf dem Parteitag der Demokraten durfte niemand ans Mikrofon, der nicht die Parteilinie — pro Abtreibungsfreiheit — vertrat. Aber ausnahmsweise können sich letztere in dieser Frage Intoleranz eher leisten als die Republikaner. Laut Meinungsumfragen sind bis zu 70 Prozent der Parteimitglieder „pro choice“. Doch anstatt diesen Wertewandel anzuerkennen, zog man es in Houston vor, der religiösen Rechten in der Partei Referenz zu erweisen und forderte sogar einen Verfassungszusatz, um Abtreibungen zu illegalisieren.

Diese Wahlarithmetik könnte sich am 3. November als Fehlkalkulation erweisen: Für die amerikanischen Wählerinnen — egal welcher politischen Richtung — zählt die Entscheidungsfreiheit im Fall einer Schwangerschaft zu den entscheidenden Kriterien bei der Stimmabgabe.

Da wird es auch wenig genützt haben, daß die republikanischen Wahlkampfstrategen in Houston erstaunlich oft den Frauen das Wort überließen. Wobei die Republikaner das Kunststück fertigbrachten, dem Jahr, indem so viele Politikerinnen wie noch nie für ein Amt kandidieren, ihren eigenen Stempel aufzudrücken: Wahlkampfthema sind nicht die Kandidatinnen für den Kongreß, sondern die Gattinnen der Präsidentschaftskandidaten. Wer darf First Lady werden? Hillary Clinton, die Karrierefrau mit eigenem politischen Kopf und kritischen Sprüchen über Plätzchenbacken, Hausarbeit und Ehe? Oder Barbara Bush, „Großmutter der Nation“ — eine Frau mit Charisma, stockkonservativen Ansichten über die Rolle einer Ehefrau und der Haarfarbe und dem Popularitätsgrad eines Richard von Weizsäcker. Um letzteres kann ihr Mann sie nur beneiden.

Klar ist: Hätte Hillary Clinton eine ähnliche Rede über die politischen und charakterlichen Vorzüge ihres Gatten auf dem Parteitag der Demokraten gehalten, sie wäre in der Luft zerrissen worden.

Barbara Bush dagegen hat sich nicht nur als politisch unverfängliche und deshalb wirksame Wahlkämpferin für George Bush erwiesen. Ihre Figur ist auch zentraler Bestandteil des ideologischen Kreuzzugs, der in Houston präsentiert und dessen Schlagwort den Delegierten und Zuschauern immer wieder eingehämmert wurde: „family values“.

Das Heil der Familie zum zentralen Dreh- und Angelpunkt der Wahlkampfstrategie zu machen, ist mehr als der Versuch, sich um die drückenden ökonomischen und sozialen Probleme des Landes herumzumogeln. Es ist der Versuch, diese Probleme zu entpolitisieren und sie in ein Koordinatensystem von „moralisch gut“ und „moralisch schlecht“ einzuordnen. Diese Taktik haben die Republikaner nicht erst in Houston entwickelt, sondern bereits im April nach dem Aufstand in Los Angeles. Da geißelte Vizepräsident Dan Quayle erstmals den Verfall der Institution Familie als Ursache für soziale Konflikte und startete seine Angriffe gegen alleinstehende Mütter, deren Kinder quasi zwangsläufig auf der Straße und im Jugendgefängnis landen. Als gäbe es keine Arbeitslosigkeit, keine Mittelkürzungen für Sozialprogramme in den Städten, keine Diskriminierung von Minderheiten.

Die Absichten dieser Strategie sind leicht zu durchschauen, aber taktisch deswegen nicht dumm: Der Kreuzzug für die amerikanische Familie erlaubt zum einen, immer wieder auf den persönlichen Charakter Bill Clintons im Zusammenhang mit seinen Eheproblemen anzuspielen, die zu Beginn des Wahlkampfs schon einmal hochgekocht worden waren. Zum anderen sind die Adressaten dieser Kampagne keineswegs nur die religiösen Fundamentalisten in der US-Bevölkerung, sondern die — hauptsächlich weiße — Mittelschicht, die sich auf der Suche nach eben jener Vision der heilen Welt in Suburbia verschanzt hat. Die stellen zum ersten Mal in der Geschichte der USA die Hälfte der US-Wahlbevölkerung. Ihre Stimmen werden am 3. November entscheidend sein. Andrea Böhm