"Weg da, weg da, weg! Wir sind spät dran und haben keine Zeit!"

■ Wer auf den Bundesautobahnen per Pkw 777 Kilometer durch Deutschland brettert, entdeckt die Wahrheit: Autofahrer sind dumm/ Und links und rechts der Leitplanken nichts als...

Start um 8.32 Uhr. Keine Eile, der Kölner Ring ist ohnehin noch voll. Aachen, Europaplatz, Beginn der Autobahn. Vorgabe an mich: Tempo 100, solange ich es aushalte. Höchstens 120. Kilometer 4,9: erstes Drängeln hinten. Kilometer13: erstmals lichtangehupt worden. Wann wohl der erste Stau kommt?

Bei Kilometer18,5 erstmals versehentlich Tempo 120. Gleich wieder runter auf konstante 100 — und das Problem ist da: Die LKWs kann man kaum überholen, und wenn, klebt einem der freie Bürger an der Stoßstange. Tempo 100 ist weder für die linke noch für die rechte Spur geeignet.

Kilometer45: Schock aus dem Radio. Für die nächsten 30 Kilometer sind insgesamt 9 Kilometer Stau angesagt. Schnell die Karte lesen. Alternativstrecke? Es gibt keine, letzte sinnvolle Ausfahrt gerade passiert. Wie lange soll der Autotrip dauern? Im WDR läuft die Zeitzeichen-Sendung über den Ausbau von Fernstraßen: „... unbegrenzte Mobilität führt, paradox genug, zu immer mehr Stillstand ...“ Köln-West passiert. Kein Stau. Hurra, es lebe das Auto!

Köln-Süd, Kilometer68. Bis hierher haben es die Stauer von Köln-West also geschafft. Es wird zähflüssig, dann stehe ich. Der WDR vermeldet den Stau immer noch bei Köln-West, 30 Minuten zu spät. Die Zeitzeichen-Sendung endete mit dem Hinweis, daß 25 Prozent aller Abgasemissionen durch Staus entstehen. Viele Autofahrer um mich herum hören offenbar auch WDR und hüpfen, servogelenkt, von Spur zu Spur. So stauen und emissieren sie wohl weniger. 9.30 Uhr. Der Sender vermeldet noch zwei Dutzend Staus in Nordrhein-Westfalen mit gut 100 Kilometern Gesamtlänge. Ein ganz ordentlicher Wert, wo der Berufsverkehr doch schon durch sein müßte. Ein Stau ist bei Overath, also auf meiner Strecke.

Kilometer92. Schon wieder eine Baustelle. Schon wieder ist nur eine Spur befahrbar. Alles stockt, weil die Auto-Individuen das Reißverschlußsystem zu individuell interpretieren. Brav gliedern sich manche schon beim Baustellen-Schild ein, andere tun dies mit zunehmender PS-Zahl — auf Sekundengewinne bedacht — erst unmittelbar vor der Baustelle.

Autofahrer sind dumm.

Planmäßig erreiche ich den Stau bei Overath. Stillstand. Die beiden Unfallbeteiligten haben die Sicherheitsregel „Abstand = halber Tacho“ auch bei Tempo Null angewendet; sie kleben verknautscht aneinander. Im WDR läuft eine Sendung mit dem Titel „Zeit gewinnen, Zeit verlieren“. Hermann van Veen singt ein Lied von der Eile: „Weg da, weg da, weg. Wir sind spät dran, wir haben keine Zeit, es ist für uns die höchste Eisenbahn.“ Wo mag Bettina dahinrattern? Ist Klaus über mir?

Kilometer121. Erster Kontakt mit Menschen. Augenkontakt: Schulkinder winken aus einem Bus. Kilometer122. Vor lauter Euphorie steht die Tachonadel bei 145 km/h. Der Beginn des Sauerlandes: Prachtvoll erhebt sich der sterbende Wald zu beiden Seiten.

Sauerlandlinie, überall Wildwechselschilder. Hirsch von links? Reh-Leichnam frontal? Ob die schon mal einen Unfall vermieden haben? An jeder Talbrücke sind Name und Höhe riesigschildrig ausgewiesen. Gegen den Schilderwald hilft kein saurer Regen.

Nach zwei Stunden im Siegerland. Es schüttet. Die Schilder „Tempo 80 bei Nässe“ sind nach den Wildwechselschildern die nutzlosesten. Die Wagen peitschen vorbei. Kilometer180: Die „historische Altstadt Herborn“ wird beworben. Herborn? Die neuere Historie der Altstadt verzeichnete im Juli 1987 einen explodierenden LKW in einer Eisdiele. Die Abfahrt Herborn ist heute für LKWs über 7,5 Tonnen gesperrt — Geschichte soll sich nicht wiederholen. Die Brummis werden die nächste Abfahrt nehmen. Pinkelpause. Wie schrecklich laut das Autoradio jetzt ist, wenn man den Wagen ausstellt! Mit Musik sucht man gegen den Krach anzukrachen.

Kilometer254. Nach drei Stunden Schritt auf fast 85 hochgepusht. Schild an der A 5: „Auf 18 Kilometern erhöhte Unfallgefahr.“ Was soll das bedeuten? Wird die Unfallgefahr auch wieder erniedrigt? Die graue Bahn schluckt mich. Bäume und Sträucher sind nur noch grüner Leitwall. Ich fließe mit, Tempo je nach Dünn- oder Dickflüssigkeit. Müdigkeit, Langeweile. Gebe es auf, meine eigenen Tempo-Überschreitungen seit Aachen zu zählen. Die Strichliste zeigt 14. Es sind zu viele. 20 Minuten Stau. Es ist der dritte. Gemeinerweise erlebe ich nirgends einen auf der Gegenfahrbahn.

Von A5 auf A4: Thüringer Bermuda-Dreieck ohne Probleme passiert. Kilometer370: Zollamt Herleshausen, das Schild steht noch. Neu ist „Herzlich willkommen in Thüringen!“ 22 Minuten Pause in der Raststätte Eisenach. Sehr moderner Bau aus der Nachwendezeit, albern neudeutsches Design ringsum. Man ißt dicke Bratenscheiben, dicke Soßen, dicke Knödel. Zweiter Kontakt mit Menschen, als ich Kaffee bestelle.

Links noch Wachtürme, auf einem steht „Höllenhunde“. Das paßt zur Stimmung im Deutschland der Mauerschützenprozesse, denke ich. Noch 278 Kilometer bis Dresden. Fünf Kilometer weiter: nur noch 238. Wenn das so weitergeht, liegt hinter der nächsten Kurve die Semper-Oper. Die schrecklichen Ostautobahnen sind ein Mythos, ich rolle gut voran. Habe den Verdacht, daß das Gemaule von denen kommt, die Bahnen erwarten, wo sie 200 fahren können, wo und wann sie wollen.

Unter mir sind abwechselnd neu asphaltierte Stücke und alte, durchschüttelnde Betonplattenbereiche. Wenn es eines Beweises bedurft hätte, daß erst die Existenz gut ausgebauter Straßen die Erwartung von hohem Tempo weckt: Hier ist er! Wo jeder weiß, ich komme nicht schneller als 100 oder 110 im Schnitt voran, fahren auch alle entsprechend. Keiner peitscht.

Bei Weimar: Ein Benz der S-Klasse will in einer Baustelle Zeit gutmachen und einen anderen S-Klassen-Benz überholen. Geht aber nicht, die Wagen sind zu breit. Ein rührendes Bild von Überpotenz.

Kilometer483: Noch einmal drängelt ein Benz, und ich habe meine größte Schrecksekunde. Ein Autofahrer aus Wiesbaden will von der Auffahrt temporeich auf die Spur draufdüsen — nicht ahnend, daß es auf Ostautobahnen kaum Beschleunigungsstreifen gibt. Im allerletzten Moment knallt er in die Eisen. Ich konnte mit Tempo 100 nicht nach links, weil sich da das lange Band der etwas schnelleren vorbeiwindet. Merke: Sich vernünftig verhalten auf Bundesautobahnen kann mitunter gefährlich sein. Tempo 100 — dem Wald zuliebe — halte ich ohnehin nicht durch in der Monotonie. Fahre Öko light, also bis Tempo 120.

Kilometer502. Überraschung: erstmals Stundenschnitt über 100, und das auf dem ersten Stück Ostautobahn. Kilometer543: Freistaat Sachsen. Tankstellen scheint es im Osten nicht zu geben. Seit Eisenach nichts gesehen, auch keinen Hinweis. Mit dem letzten Tropfen in Chemnitz raus. Nach dem Weg fragen und „volltanken bitte“ ergibt gleich zwei weitere menschliche Kontakte kurz hintereinander. Zweifacher Kulturschock: Ich verstehe die Leute hier nur mit großer Mühe, und direkt hinter der Kurve: DDR pur. Nichts zu sehen von Umbruch, Aufbruch, Aufschwung, alles noch realsozialistisch verfallen. Auch das Tal der Ahnungslosen scheint geblieben: Hinter Chemnitz gelingt es mir, den Sendersuchlauf des Autoradios in eine Endlosschleife zu schicken.

Kilometer649, 16.15 Uhr, Wilsdruff, kurz vor Dresden: „Sperrung der Richtungsfahrbahn bis Dresden-Neustadt“, lautet die Durchsage seit einer Stunde. Also Landstraßen, quer durch Dresden. Erste Rückenschmerzen. Ganz Dresden eine einzige Baustelle. Das Schild „World Trade Center Dresden“ zeigt: Geschichte wird gemacht. Fast eine Stunde Fahrradtempo.

Einige Umleitungen, Schleifen und Ehrenrunden über Kopfsteinpflaster. Auf der Autobahn begrüßt mich bei Kilometer668 eine neue Baustelle, das „Kreuzungsbauwerk A3/A4“. Neue Leitplanken blinken deutsch-sauber. Gegen Ende nimmt die Autobahn geradezu idyllischen Charakter an: Birkenalleen und Sonnenblumen auf dem Mittelstreifen, Gärten und Hopfenplantagen reichen fast bis an die Leitpfosten.

Hier franst Deutschland allmählich aus.

Kilometer725, 17.40 Uhr. Teilstrecke bis Görlitz vollgesperrt. Umleitung. Rolle automatisch dahin wie über eine bestausgebaute Landstraße. Erschöpfungserscheinungen. Landschaft ist vorhanden, das erkenne ich gerade noch. Ortshinweise in sorbisch wecken Befürchtungen, ich sei irgendwie nach Polen geraten. Keinerlei Reklame in den Dörfern. Das Gestern heute.

18.26 Uhr Ankunft Görlitz City. Ein Schmuckstück der Jahrhundertwende, vom Charme des Verfalls gezeichnet. Das Vorgestern heute. Bernd Müllender

Fahrtzeit: 9 Stunden und 11 Minuten, Durchschnittstempo 80 Kilometer pro Stunde, Spritverbrauch etwa 49, Kaffeeverbrauch 1,5 Liter.