Biotope dank Streusalz und Bombentrichtern

Frankfurter ForscherInnen komplettieren die umfassendste Biotopkartierung Deutschlands/ Stadt als Wärmeinsel für Insekten/ Auch Kulturlandschaften fördern seltene Pflanzen und Tiere/ Renaturierung mit kleinen Fehlern  ■ Aus Frankfurt Heide Platen

Die gewichtigen roten und blauen Bände stapeln sich auf dem Schrank im Büro von Gartenbau-Direktor Dieter Wrede im Frankfurter Umweltamt. Sie sind fast ein Jahrhundertwerk — die umfassendste Biotopkartierung einer Großstadt. Sie erfaßt mit 450 Flurkarten im Maßstab 1:2.000 akribisch, was in der Main-Metropole auf 200 Quadratkilometern Fläche wächst und blüht und kreucht und fleucht. Die Forschungsgruppe des Senckenberg- Museums, die der Magistrat der Stadt vor sieben Jahren beauftragte, sich Planquadrat für Planquadrat auf die Suche nach der innerstädtischen Tier- und Pflanzenwelt zu machen und die Flächen zu klassifizieren und zu bewerten, hat in diesem Jahr auch die nördliche Lücke geschlossen. Sie teilte die Stadt in 60 Typen ein — eine Werteskala von I, „nicht nennenswert“, bis VII, „sehr hohes Naturschutzpotential“.

Konservativen Kleingärtnern dürften die Ergebnisse ein Greuel sein, so zum Beispiel, daß sich „intensive gärtnerische Pflege einschränkend auf den Wert einer Fläche auswirkt“, und daß „Plattenwege, Exoten und Zierrasen“ keinen Blumentopf gewinnen können. Verwilderte Bauerngärten, Grabeland und schrottelnde Laubenpieper kommen da besser weg. Das Unheil nehme, so die ForscherInnen, oft erst richtig seinen Lauf, wenn daraus ordentliche „Vereins-Kleingartenanlagen“ erwachsen.

Die Kartierung ist ein mühseliges und langwieriges Geschäft. Hinweise aus der Bevölkerung halfen ebenso wie Ultraschall-Nachtbeobachtungen von Fledermäusen, die Auswertung von Infrarot-Luftbildern und das vorsichtige Einfangen und Zählen von Insekten und kleinen Wirbeltieren, das allerdings einer Sondergenehmigung bedarf. Die Ergebnisse sind in Computern gespeichert.

Wichtige Suchhinweise fanden sich auch in Forschungsberichten aus früheren Jahrhunderten. Vorbei sind allerdings die Zeiten, in denen sich die Glattnatter noch am Güterbahnhof schlängelte und Zauneidechsen im noblen Westend herumkletterten. Die Studie zeigt gerade mit diesen Rückgriffen auf, daß das Zauberwort „Renaturierung“ kein Allheilmittel ist. Das Renommierprojekt der Stadt, der Eschbach im Frankfurter Norden, bekommt auch nicht die besten Noten. Das mit Weiden und Wasserpflanzen neu bestückte Ufer eines Zuflusses sei „aus botanischer Sicht bedenklich“, zu artenarm und den Stadtgärtnern mit Schwertlilie und Hahnenfuß zu sehr ins Dekorative geraten. Außerdem werden die Weiden, wenn sie ausgewachsen sind, mit ihrem Schatten den Wasserpflanzen das Lebenslicht verstellen. Andere Uferbegrünungen kommen allerdings noch wesentlich schlechter weg: „Pyramidenpappeln als lebende Gestaltelemente“ — kaum besser als Kübelgrün eben.

Die Kartierung, die Entscheidungs- und Planungshilfe für die Stadt sein soll, birgt Sprengstoff. Die AutorInnen sehen das voraus: „Um Zerstörung und Bewahrung der noch vorhandenen Naturräume wird es heftigen Streit geben.“ Die Wiederherstellung alter Zustände scheint ihnen jedoch auch suspekt, weil sie anhand alter Flurkarten, Luftbilder und Berichte belegen können, daß das gesamte Stadtgebiet seit Jahrhunderten verschiedenster Nutzung und Umwandlung durch die Menschen unterworfen war. Jede Veränderung von Grundwasserfluß oder Bebauung veränderte die Natur. So blühte die vom Aussterben bedrohte Osterluzei, die nur noch vereinzelt in Gärten zu finden ist, als die Frankfurter ihr Wald- und Weideland in Weinberge umwidmeten. Ein ähnliches Schicksal erleidet jetzt der Speierling, eine Ebereschenart, die gepflegt wurde, als sie sich dann von diesem sauren Tropfen weg auf den Apfelwein verlegten. Den größten noch vorhandenen Speierling im Stadtgebiet stützen Eisenstangen, weil seine Wurzeln dem den Streuobstwiesen nachfolgenden Ackerbau nicht gewachsen sind. Das einzige seit 1822 kontinuierlich genutzte Gebiet in der Niddaaue zum Beispiel ist ein Kleingartengelände.

Überhaupt sind die letzten Felder, die Landwirtschaft am Stadtrand, nicht Idylle, sondern Feindesland für Pflanze und Tier. In den „Agrarwüsten“ halten es oft nur noch Quecken und ein paar Mäuse aus. Verblüffend, welche ausgefallenen „wertvollen“ Lebensräume die Untersuchung dagegen ausmachte. Selbst Automärkte und Industriebrachen, Mauerritzen und Häuserdächer kommen besser weg als das „repräsentative Ziergrün“. Sie sind zwar keine Paradiese, bieten aber Insekten und Ruderalpflanzen, also solchen mit speziellen, meist bescheidenen Ansprüchen an ihren Standort, unersetzliche Überlebenschancen. U- Bahn-Trassen, Straßen und Bahngleise zerschneiden Lebensräume, verhindern den genetischen Austausch einzelner Tierarten und bedeuten ihren Untergang. Sie können aber auch selbst wieder kleine Oasen sein, wie der Südhang einer U-Bahn- Linie oder die wassergefüllten Bombentrichter aus dem Zweiten Weltkrieg, in denen sich Kamm- und Teichmolch ansiedelten. Umweltschützers Schrecken, das Salzstreuen auf winterlich glatter Straße, ermöglichte einer kleinen Pflanzengruppe das Überleben am Straßenrand. Sie waren noch 1832 als Vegation ehemaliger Salzstellen und typisch für diese Gegend beschrieben worden.

Geradezu sensationelle Funde und Erkenntnisse ergaben sich bei den Insekten. Käferarten konnten in Deutschland erstmals nachgewiesen werden oder galten über Frankfurts Grenzen hinaus als ausgestorben. Direkt vor der Haustür, im Brombeer- und Brennesselgewucher des Senckenberg-Museums in der Innenstadt, entdeckten sie, erstmals in Hessen, die größte europäische Töpferwespe (Delta unguiculatus). 89 der aufgespürten wirbellosen Arten sind vom Aussterben bedroht und stehen auf der „Roten Liste“.

Größere Wirbeltiere verirren sich dagegen nur selten in die Stadt, es sei denn, sie seien Kulturfolger wie die Elstern, Tauben und Möwen. Gartenbau-Direktor Wrede weist ausdrücklich darauf hin, daß nur das Stadtgebiet, nicht aber der angrenzende Stadtwald untersucht wurde. Steinmarder, weiß er, sind hin und wieder gemeldet worden, am Stadtrand auch mal ein Fuchs. Aber das ist eher die Ausnahme.

Den drastischen Rückgang der Weißstörche im Stadtgebiet beklagte Julius Ziegler schon 1893. Er belegte ihn mit einer Karte bewohnter und verlassener Nester. Die leeren ballen sich im Innenstadtbereich. Ziegler macht dafür unter anderem das „nunmehr zweifellos ungeheure Telefonnetz“ mit seinem Drähtegewirr verantwortlich, „ein gefährliches Spinnengewebe“. Das letzte Paar brütete 1969 auf einem Turm neben einer Bäckerei. Ungelöste Rätsel geben die Fledermäuse auf. Sie jagen noch in einigen Parks der Stadt. Wo sie leben, konnten die KartiererInnen nicht herausfinden. Ihre Schlafplätze sind bis heute nicht entdeckt.

Das Credo der KartiererInnen gleicht dem des Naturschutzes: „Lebensräume vernetzen, vernetzen und noch mal vernetzen!“ Dem schließt sich in seinem Vorwort auch Umweltdezernent Tom Koenigs an. Er sieht den Eschbach, an dem die Forscher noch einiges auszusetzen haben, allerdings schon als beispielhaftes Modell.