Die Wende-Klausur der SPD-Spitze
: Engholm verläßt die Opposition

■ Ursprünglich sollte es einmal eine Klausurtagung werden, die als Ergebnis eine Alternative zur Kohl-Regierung präsentiert. Was Björn Engholm und die anderen...

Engholm verläßt die Opposition Ursprünglich sollte es einmal eine Klausurtagung werden, die als Ergebnis eine Alternative zur Kohl-Regierung präsentiert. Was Björn Engholm und die anderen Spitzenpolitiker der SPD jetzt ablieferten, ist in zwei wesentlichen Punkten der deutschen Politik der Verzicht auf eine Alternative zur CDU. Engholm kündigte an, er werde seiner Partei empfehlen, einer Einschränkung des Asylrechts zuzustimmen und die Beschränkung der Bundeswehr auf das Nato-Vertragsgebiet aufzuheben. Deutsche Soldaten „out of area“, selbstverständlich mit der UNO

EIN BERICHT VON MATHIAS GEIS

Die SPD probt den Umfall, es funktioniert! Warum eigentlich keine deutsche Beteiligung an UN- Kampfeinsätzen — fragte sich die am Wochenende auf dem Petersberg bei Bonn versammelte Parteispitze und fand — ganz anders als vor gut einem Jahr auf dem Bremer Parteitag — keine plausible Antwort. Und auch im zweiten großen Streitfall gingen der 15köpfigen Koordinierungsgruppe plötzlich die Argumente aus. Warum eigentlich keine restriktive Änderung des Asylgrundrechtes — auch vor der europäischen Harmonisierung?

Mit den Petersberger Beschlüssen ist die Führung der stärksten Oppositionspartei in zwei zentralen innenpolitischen Streitfällen auf Regierungskurs eingeschwenkt. Sie wirft dort „Ballast“ ab, wo sie sich eine überzeugende Oppositionspolitik ohnehin nicht mehr zutraut, um endlich mit ihren finanz-, sozial- und wirtschaftspolitischen Vorschlägen zur „Vollendung der deutschen Einheit“ in die Offensive und damit wieder an die Macht zu kommen.

Matador dieser „Klein-Godesberg-Strategie“ war diesmal — so die Aussagen perplexer Klausurteilnehmer — kein anderer als Parteichef Björn Engholm. Als der am Freitagabend eine Stunde zu spät auf dem Petersberg eintraf, beschied er den wartenden Journalisten, die wieder mal seine Führungsrolle in Frage stellten, ungewohnt barsch: „Ich bin nicht Kaiser Wilhelm, ich habe meinen eigenen Führungsstil.“ Den probte er dann hinter verschlossenen Türen. Seit einiger Zeit ohnehin schon sanft im Aufwind, startete der bislang als diffus-zögerlich apostrophierte Kanzlerkandidat die Profilierungsoffensive — mit der Regierung, gegen seine Partei.

Zielstrebig, so sichtlich beeindruckte Teilnehmer, habe Engholm der Koordinierungsrunde seine überraschenden Vorgaben für den Kursschwenk präsentiert. Die prinzipielle Ablehnung einer deutschen Beteiligung an UN-Kampfeinsätzen sei angesichts der veränderten Weltlage nach dem Ende des Ost-West- Konfliktes nicht länger aufrechtzuerhalten.

Die Bedingungen, die Engholm vor der Zustimmung zu einer entsprechenden Grundgesetzänderung, erfüllt wissen will, klingen plausibel: Vor der endgültigen Entscheidung der Partei müsse die UNO grundlegend reformiert werden. Ihr Gewaltmonopol dürfe nicht so aussehen, daß „zwei, drei oder vier die Weltpolizei und deren Aufgaben definieren.“ Keinesfalls dürften die Deutschen in Konflikte nach dem Muster des Golfkrieges hineingezogen werden. Damit ließ Engholm noch einmal bisherige Vorbehalte anklingen, um sodann den Eindruck zu zerstreuen, es handele sich dabei wirklich um ernsthafte Hindernisse: Denn denkbar, so Engholm, sei eine Konfliktsituation, in der die SPD schon vor der UN-Reform den Weg zur Grundgesetzänderung beschreiten müsse.

Die „Konditionen“, so scheint es, haben eher moderierende Funktion für die programmierte innerparteiliche Auseinandersetzung. Ähnliches gilt für Engholms beschwichtigende Zeitperspektiven: Das alles sei ja kein Problem der nächsten vier Wochen. „Wir stehen nicht unter Zeitzwang.“ Ob die Bundesregierung das auch so sieht? — „Der Text ist fertig“, kündigte jedenfalls gestern Außennminister Kinkel die Vorlage des entsprechenden Gesetzentwurfs an und schob zugleich das deutsche Interesse an einem Sitz im UN-Sicherheitsrat nach. Das Kalkül der Bundesregierung, die SPD vor dem Hintergrund des Jugoslawienkonfliktes zum prinzipiellen Einlenken zu zwingen, scheint aufgegangen. Gescheitert ist dagegen das erklärte Ziel der Sozialdemokraten, mit einer präzisen Grundgesetzänderung ausschließlich für deutsche Blauhelmeinsätze, die verfassungsrechtliche Grauzone zu beseitigen und allen weitergehenden Ambitionen einen Riegel vorzuschieben.

Bleibt nur noch die Partei: Die polarisierte Debatte auf dem Bremer Parteitag vor einem Jahr, auf dem nach scharfen Auseinandersetzungen die bisherige Blauhelm-Beschlußlage festgeklopft worden war, läßt die Schärfe der jetzt bevorstehenden Auseinandersetzung erahnen. Der emotionalisierte innerparteiliche Glaubensstreit könnte leicht alle Profilierungshoffnungen der Führungsgenossen zunichte machen. Die Forderung nach einem Sonderparteitag wird sich schwer abweisen lassen, wenn die Parteispitze nicht auch noch eine öffentliche Kontroverse in Sachen innerparteilicher Demokratie in Kauf nehmen will.

Verglichen mit der bevorstehenden außenpolitischen Debatte, dürfte die Kurskorrektur in Sachen Asylrecht innerparteilich leichter zu vermitteln sein. Zu lange schon haben führende Sozialdemokraten, zuletzt Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe, Handlungsbedarf signalisiert. Ohnehin hatte der Parteirat mit dem bisher gültigen Beschluß — Grundgesetzänderung im Rahmen der europäischen Harmonisierung — bereits signalisiert, daß die SPD sich auch beim Asyl nicht länger als Prinzipienreiter aufführen wolle. Jetzt ist es raus: die Zuwanderung nach Deutschland, so Engholm, müsse gebremst und gesteuert werden. Wenn dafür eine Verfassungsänderung notwendig sei, werde das die SPD mittragen. Asylbewerber, die bei ihrer Ankunft keine oder falsche Angaben machen, sollen künftig aus dem Asylverfahren ausgeschlossen werden. Zudem soll künftig mit einer Liste sogenannter Nichtverfolgerstaaten die Anerkennung von Asylbewerbern aus bestimmten Staaten von vornherein ausgeschlossen werden. Wie es dennoch beim Grundsatz des Individualrechts auf Asyl bleiben soll, das der Parteichef auch nach der Entscheidung nicht zu betonen vergaß, bleibt vorerst sein Geheimnis.

Trozdem, ohne Abfederung wollten die Petersberger auch die Asylkehre nicht präsentieren: Bürgerkriegsflüchtlingen müsse ein befristetes Aufenthaltsrecht gewährt werden. Gefordert sei zudem ein nationales Einwanderungsgesetz, eine erleichterte Einbürgerung von Ausländern sowie die Möglichkeit doppelter Staatsbürgerschaft. Entsprechende Initiativen will die SPD in den Bundestag einbringen.

Da wundert es nicht, daß Rudolf Seiters die SPD-Spitze zu ihren Empfehlungen beglückwünschte. Zwar komme, so der Bundesinnenminister, die Einsicht in die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung spät. Doch dann wollte er nicht länger nachkarten: Jetzt gehe es darum, möglichst rasch Schritte zu unternehmen, um unberechtigte Asylbewerber von langwierigen Verfahren auszuschließen. Bereits für die kommende Woche hat die Regierung entsprechende Verhandlungen anberaumt, um das Verfahren zur Grundgesetzänderung „schnellstens abzuwickeln“.

Angesichts der spektakulären Beschlüsse geriet die „eigentliche Schicksalsfrage“ der Nation (Engholm) wieder einmal in den Hintergrund: Der wirtschaftliche Aufschwung-Ost, befeuert durch das „Sofortprogramm“ der SPD, zu dessen Beratung die Klausurtagung einberufen worden war. Eher als um Investitionszulagen, Rettung der industriellen Substanz im deutschen Osten oder Anlagegenossenschaften wird die Partei jetzt über die spektakuläre Kurskorrektur streiten. Die Debatte darüber ist, zumindest bis zum 29.September, wenn der Parteirat über die jüngsten Entscheidungen beschließen wird, programmiert.

Die Bundesregierung, so scheint es, hat am Wochenende nicht nur einen neuen Partner gewonnen, sondern zugleich eine mit sich selbst beschäftigte Opposition. Alternative nicht in Sicht.