Bootsfahrt in der Unterwelt

■ Hamburgs Kanalisation ist die älteste Sielanlage des Kontinents

Eine Fahrt durch Hamburgs Unterwelt gehörte noch um die Jahrhundertwende für jeden Ehrengast der Stadt zum Programm. Das 1842 nach den Plänen des englischen Ingenieurs William Lindley errichtete Sielnetz ist das älteste auf dem Kontinent. Schon die Hohenzollernkaiser Friedrich III und Wilhelm II ließen sich durch die düsteren Kanäle rudern.

Gestern machte Umweltsenator Fritz Vahrenholt zum 150jährigen Jubiläum der Stadtentwässerung einen Ausflug ins Siel. Begleitet von einer Schar neugieriger Medienvertreter ging der Senator am Baumwall in den Untergrund. Dort steht der „Promi-Einstieg“, ein 1904 eigens für hohe Besucher errichtetes Torhäuschen.

In Schlauchbooten gleiten die Expeditionsteilnehmer über die stillen miefigen Wasser, ausgerüstet mit Schutz-Overall, Gummistiefeln, Helm und Handschuhen, um den Hals ein Atemgerät, das im Notfall vor erstickenden Gasen retten soll. Der Gestank ist nicht atemberaubend, kein Wunder, von oben wird den Sielbesuchern Luft hereingeblasen. Trotz seiner fast 100 Jahre ist der 3,85 Meter breite und 4,70 Meter hohe Ziegelkanal an den Landungsbrücken in erstaunlich gutem Zustand.

In anderen Sielen sieht es viel dramatischer aus, berichtet Dieter Zander, Leiter der Planungsabteilung bei der Stadtentwässerung. Umfangreiche Sielschäden kamen bei der jüngsten Kontrolle ans Licht. An 650 Stellen muß dringend repariert werden, mindestens 115 Kilometer sind brüchig und müssen vollständig neu gebaut werden. Erst seit drei Jahren ist es dank der neuen Sammler möglich, die unterirdischen Kanäle trockenzulegen und zu inspizieren. Die Sielarbeiter müssen nun nicht mehr mit dem Stock im Trüben stochern und entdecken immer mehr Stellen, wo schon die ganze Sohle weggebrochen ist. In der Innenstadt sprudelt mancherorts Grundwasser in die

1marode Kanalisation. Problematischer ist es dort, wo die Siele oberhalb des Grundwasserspiegels liegen, und die Abwässer ins Erdreich sickern.

Angegriffen werden die 5000 Kilometer langen Kanäle, die Hamburgs Unterwelt durchlöchern wie einen Schweizer Käse, von innen durch aggressives Industrie-Abwasser und Chemie aus den Haushalten. Von oben erschüttert der ge-

1wachsene Auto- und Schwerlastverkehr die alten Gemäuer. Belastungen, mit denen Lindley vor 150 Jahren nicht gerechnet hatte.

Nur für Sofortmaßnahmen flossen in den vergangenen zweieinhalb Jahren mehr als 30 Millionen Mark in den Gully, für die Sielerneuerung seit 1975 rund 700 Millionen Mark. Was die gesamte planmäßige Erneuerung der gesamten Hamburger Kanalisation, die im nächsten Jahr

1beginnen soll, schließlich kosten wird, vermag der Umweltsenator nur vage mit „einigen hundert Millionen Mark“ zu beziffern. Das große Buddeln beginnt an den Großen Bleichen, an Hamburgs ältestem Siel. Bislang habe die Stadt zuwenig in ihre unsichtbare Unterwelt investiert, so Vahrenholt, man habe zu lange auf die alten Kanäle vertraut. „Niemand weiß, wann das nächste Siel bricht.“ Vera Stadie