"Manchmal weint man mit"

■ Seit zehn Jahren Krebsberatung bei der Arbeiterwohlfahrt / Frauen suchen besonders häufig Rat / Krankheit als Chance, das Leben zu ändern

bei der Arbeiterwohlfahrt / Frauen

suchen besonders häufig Rat / Krankheit als Chance, das Leben zu ändern

Jedes Jahr erkranken in Hamburg bis zu 9000 Menschen an Krebs. Wie ein Todesurteil bricht die Diagnose in das Leben ein. „Warum trifft es ausgerechnet mich?“ Die oft gestellte Frage drückt Angst, Wut und Hilflosigkeit aus. Viele fressen diese Gefühle in sich rein, statt sie mit der Familie oder Freunden zu besprechen. Zu groß ist die Furcht, daß die Krankheit Beziehungen verändern oder zu Konflikten führen könnte. In solchen Situationen helfen oft nur neutrale Gesprächspartner, wie zum Beispiel Solveig Haubold und Marianne Woelk. Die beiden Psychologinnen arbeiten in der Krebsberatung der Arbeiterwohlfahrt, seit nunmehr zehn Jahren Anlaufpunkt für Betroffene, aber auch für Angehörige von Tumorkranken.

Denn auch diejenigen, die in engem Kontakt zu einem Krebspatienten stehen, fühlen sich unsicher und ängstlich: „Wieviel Raum dürfen meine Sorgen und Bedürfnisse noch einnehmen? Muß ich jetzt immer rücksichtsvoll und optimistisch sein? Wieviel Offenheit ist angemessen?“ Für Krebspatienten stehen dagegen andere Sorgen im Vordergrund, wie die Angst vor dem Sterben und den Schmerzen, verringertes Selbstwertgefühl zum Beispiel nach einer Brustamputation oder die Panik, wenn der Arzt eine erneute Verschlechterung des Leidens feststellt.

Patentrezepte können die beiden Psychologinnen nicht ausstellen, denn die Bedürfnisse der Ratsuchenden sind unterschiedlich. Den einen reicht es schon, via Te-

1lefon die Nöte auszusprechen und tröstende Worte zu hören, andere wiederum suchen das persönliche Gespräch oder den Erfahrungsaustausch in der Gruppe. Alle drei Angebote offeriert die Beratungsstelle. „Die meisten Menschen, die zu uns kommen, müssen ersteinmal lernen, daß die Krankheit nicht nur Tod, sondern auch Leben bedeutet“, erzählt Solveig Haubold. Nach dem ersten Schock nutzen manche die Krankheit als Chance, ihrem Leben eine andere Wendung zu geben.

„Verdammt, was habe ich eigentlich die vergangenen Jahre gemacht?“ Die Feststellung, daß die eigenen Träume auf dem Altar der Uneigennützigkeit geopfert wurden, trifft vor allem Frauen, die sich zugunsten von Mann und Kindern zurückgenommen haben. In dem erwachten Bewußtsein, daß

1ihr kranker Körper vielleicht seelische Ursachen hat oder nicht mehr viel Zeit bleibt, fassen sie neuen Mut. So startete eine Frau doch noch zu einem Segeltörn, wie sie es immer schon mal wollte. Eine andere, die ihr Leben lang immer nur gespart hatte, gönnte sich den Luxus, mit ihrem Mann in den Urlaub zu fahren.

Meistens sind es Frauen, die in der Beratungsstelle anrufen, vermutlich weil sie eher als Männer über ihre Sorgen sprechen wollen. 78 Prozent der insgesamt 244 Klienten im vergangenen Jahr waren weiblich. Die beiden Psychologinnen selber berührt das Schicksal der Klienten, die sie näher kennenlernen, sehr: „Manchmal weinen wir einfach mit.“ Sigrun Nickel

Die Beratungsstelle befindet sich in der Rothenbaumchaussee 44, Hamburg 13, 41402330.