„Sie können ja anders wählen“

■ Sozialsenatorin Irmgard Gaertner besucht das „Viertel“ / AnwohnerInnen stinksauer

Bei einer Begehung der drogenpolitischen Brennpunkte im „Viertel“ und einer anschließenden Diskussion im Lagerhaus Schildstraße mußten sich gestern Sozialsenatorin Irmgard Gaertner und Innensenator Friedrich van Nispen wütender Proteste der AnwohnerInnen und einiger Junkies erwehren. Sie hatten den Forderungen nach einem Sofortprogramm im eskalierenden Drogenkonflikt wenig bis nichts zu entgegnen, im Gegenteil: In der Diskussion gab Irmgard Gaertner nebenbei zu, daß die geplanten Container in Oberneuland nicht für obdachlose Junkies aus dem Viertel reserviert seien, wie es zuerst geheißen hatte. 24 ehemals Obdachlose, die aus ihren bisherigen betreuten Wohneinrichtungen in der Föhrenstraße ausziehen müssen, sollen in die Oberneulander Container einziehen. Dort fällt allerdings die aBetreuung weg. Für die obdachlosen junkies im Viertel ändere sich nichts, teilte die Sozialsenatorin mit. Vermutlich werden die Containerbewohner allerdings, wenn sie morgens aus ihren Behausungen rausgeschmissen werden, für den Tag ins Ostertor kommen, bis sich ihre Schlafquartiere wieder öffnen.

Die Aussage der Senatorin strafte die Erklärung ihres Sozialamtsleiters Hans Leppin Lügen, der vor dem Beirat Oberneuland und über 500 Anwesenden versprochen hatte, selbstverständlich werde es dort „betreutes Wohnen“ für die Junkies geben.

Das Treffen von SenatorInnen und AnwohnerInnen hatte eine Delegation der Anwohnerinitiativen am vergangenen Dienstag verabredet, während andere eineinhalb Stunden die Sielwallkreuzung blockierten. Vor den geöffneten Fenstern des Lagerhaus- Cafés stand eine Gruppe und skandierte „Frau Gaertner traut sich nicht“, während drinnen die Sozialsenatorin schmallippig verkündete, daß sie nicht an dem per Senatspressedienst angekündigten Rundgang im Ostertor teilnehmen werde: „Das war nicht ausgemacht, ich bin zur Diskussion gekommen.“

Erst nach Beschwichtigungsformeln des Senatskollegen van

Sozialsenatorin Gaertner, im Ostertor in Bedrängnis Fotos: Katja Heddinga

Nispen und ihrer Pressesprecherin ließ sie sich erweichen und bewegte sich in einem Troß von AnwohnerInnen und Junkies, von zahlreichen Medienvertretern umschwirrt, an den öffentlichen „Druckräumen“ und fixenden Junkies vorbei, aber immer im deutlichen Abstand zum Elend.

In der Diskussion im Lagerhaus versuchten AnwohnerInnen und Junkies in drastischen Worten noch einmal zu beschreiben, wie nahe die soziale Lage im Viertel am Umkippen ist. „Wir wollen Antworten hören, Termine und Maßnahmen, wir wollen keine Papiere“, sagte Mathias Siebert. Wohnraum für obdachlose Junkies und die Ausweitung des Methadonprogramms mit konkreten Zeitangaben, erst dann Repression gegen die Szene, das waren die Forderungen, die den meisten Beifall der etwa 250 Versammelten fanden.

„Ich halte das Problem für

Frau, Augen zu

nicht lösbar, sonst müßten wir einen anderen Staat haben“, war einer der ersten Sätze von Irmgard Gaertner. Und als sie dann die Belegungsentscheidung für die Oberneulander Container bekanntgab, hatte sie die Sympathien verloren. „Eineinhalb Millionen gibt es zusätzlich zur jährlichen Million“, warb sie für die Drogenpolitik des Senats, nur um die Antwort zu hören: „Das sind zehn Prozent dessen, was die Teerhofbrücke kostet.“

Dem Innensenator erging es nur wenig besser. Er stellte sich zwar pauschal hinter die Forderungen der AnwohnerInnen, doch zur Drogenstrich-Verlegung wußte er nur ausweichende Antworten. „Wieso sollen die Frauen denn an den neuen Standort gehen. Wie sind die denn dort geschützt“, fragte eine Mitarbeiterin des AK Drogen mehrfach. Van Nispen sibyllinisch: „Wir bitten die Leute beim Betreuungs

bus, mitzuziehen.“ Ähnlich Gaertner: „Wir müssen mit den Trägern des Busses verhandeln.“ Im Klartext: Weder das Innen-, noch das Sozialressort haben bislang mit den Betreibern des Betreuungsbusses für die Drogenprostituierten geredet, obwohl seit Monaten gerade dieser Bus eine zentrale Rolle bei den Überlegungen zur Verlegung des Strichs spielt.

Am Ende stand die Enttäuschung den AnwohnerInnen ins Gesicht geschrieben. „Mir fehlen langsam die Worte“, meinte ein Anwohner aus der Linienstraße, der vor zwei Wochen dazu übergegangen ist, Junkies von seiner Haustür zu vertreiben. Viele winkten ab, als sie das Lagerhaus verließen: „Blabla“. Und einer meinte, er wolle sich auf jeden Fall an das halten, was van Nispen in der Diskussion gesagt hatte: „Sie haben in drei Jahren Gelegenheit, entsprechend zu wählen.“ Jochen Grabler