Mauer in Berliner Kinderköpfen wächst weiter

■ Die zweite Berliner Schülerstudie zeigt wenig Gemeinsamkeiten von Ost- und Westberliner Jugendlichen/ Keine politisch motivierte Gewalt gegenüber Ausländern/ Fast die Hälfte der Kids würde am liebsten aus Berlin wegziehen — aufs Dorf

Berlin. Je weniger die Mauer im Stadtbild präsent ist, desto weiter entfernen sich Berliner Jugendliche in beiden Stadthälften voneinander. Zu diesem scheinbar paradoxen Ergebnis kommen jedenfalls alle Momentaufnahmen und Betrachtungen der vergangenen Jahre. Auch der gestern vorgestellte zweite Teil der »Berliner Schülerstudie« bestätigt den Trend. Im Vergleich zum vergangenen Jahr schätzen sich Jugendliche aus dem Ost- und dem Westteil gegenseitig aggressiver ein, ihre Entfremdung nimmt zu, das emotionale Klima wird rauher. Freundschaften von Ost nach West gibt es so gut wie nicht. »Die Vorurteile haben eindeutig zugenommen«, erklärt Dieter Kirchhöfer, Mitherausgeber der (nicht repräsentativen) Studie, die über Aktivitäten und Orientierungen von 12- bis 16jährigen SchülerInnen Auskunft gibt.

Bereits zum zweiten Mal nach dem Mauerfall fragten Erziehungswissenschaftler der Freien Universität und Forscher des Zentrums für Europäische Bildungsforschung 664 Lichtenberger und 559 Charlottenburger Jugendliche nach ihren Lebensbedingungen, Ängsten und Wertvorstellungen. Im Rahmen einer Langzeitstudie soll die Befragung bis 1995 jährlich wiederholt werden.

Hielten Ostberliner Kids ihre Kollegen aus dem Westteil vor einem Jahr noch für kreativer und aktiver als sich selber, hat sich diese Einschätzung inzwischen in ihr Gegenteil verkehrt. »Die Schüler im Osten sind selbstbewußter geworden«, so Kirchhöfer. Schlechter sind dort immer noch die Lebensbedingungen für junge Leute. Hat der durchschnittliche 12- bis 16jährige Ostberliner 59,64 Mark zur Verfügung, kann der West-Schüler fast das doppelte, nämlich 111,85 im Monat auf den Kopf hauen. Einen Vorteil haben die Ost-Kids dafür in der Schule: Auch nach der Vereinheitlichung des Schulsystems gibt es im Osten die besseren Zensuren. Dafür ist im Westteil das Schulleben außerhalb des Unterrichts ausgeprägter. Während dort 31 Prozent der Schüler an Arbeitsgemeinschaften teilnehmen, sind es im Ostteil nur 16.

Die Akzeptanz von Ausländern ist im Westteil immer noch höher als im Ostteil, fanden die Forscher heraus. Politisch motivierte Gewalt gegenüber Ausländern vermochten sie (ganz im Gegensatz zu zahlreichen anderen Studien) ebensowenig festzustellen wie einen Zusammenhang zwischen sozialer Notlage und Gewaltanwendung. Statt dessen werde Gewalt von Jugendlichen zur Zeit sehr stark ideologisiert, so Gerhard Wenzke, Mitarbeiter des Forschungsteams. Studien in Frankfurt/ Oder hätten außerdem ergeben, daß das Gewaltpotential bei Jugendlichen dort ungleich höher ist als in Berlin. Ihre Erklärung: die Nähe zu Polen und die dadurch entstehenden Konflikte. Auch in Lichtenberg habe die Akzeptanz von Ausländern zugenommen, seit sich dort weniger Sinti und Roma sowie vietnamesische Zigarettenhändler aufhielten.

Ein Armutszeugnis stellen Jugendliche in Ost wie West der Lebensqualität Berlins aus. 43 Prozent der Ost- und 46 Prozent der Westberliner würden lieber woanders leben — noch vor einem Jahr zog es nur jeden Dritten weg. Sie zieht es aufs Dorf; weniger Verkehr, Dreck, Hektik und mehr Grün. In ihren Zukunftsängsten sind sich Jugendliche aus Ost wie West einig: Über 90 Prozent haben Angst vor Umweltzerstörung; gefolgt von Aggressivität, Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Drogenmißbrauch und Aids. Jeannette Goddar