Thierse läßt Berliner Sozis weiterschimmeln

■ Absage des Ostberliners stürzt SPD in die Krise/ Name des neuen Parteichefs offen/ Thierse: »Verschimmelten Links-Rechts-Streit beenden!«

Berlin. Katzenjammer in der Berliner SPD: Eine Woche nach dem von der Partei erzwungenen Rücktritt ihres Landesvorsitzenden Walter Momper stürzt nun die Absage des Ostberliner SPD-Stars Wolfgang Thierse die Partei in eine echte Krise. Daß der stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende nicht bereit sei, das Amt des Parteichefs zu übernehmen, sei »ein Debakel«, urteilte ein Genosse. Einen Ersatzkandidaten präsentierte die SPD gestern nicht. Man müsse nun »inhaltlich« diskutieren, »wie es mit der Partei weitergehen soll«, sagte die kommissarische Vorsitzende Monika Buttgereit.

Wunschkandidat Thierse hatte gestern früh dem Geschäftsführenden Landesvorstand seinen Verzicht auf das Amt des Berliner SPD-Chefs mitgeteilt. Er sei zu dem Schluß gekommen, so Thierse nach der Sitzung, daß er seine Rolle als »Mundwerk der Ossis« in Bonn mit einem »vollen Berliner Engagement« nicht vereinbaren könne. Eine Großstadtpartei könne nur ein »dauerhaft präsenter Vorsitzender« führen. Er würde sonst rasch als »Frühstücksdirektor« verlacht. »Ein bißchen irritiert« habe ihn auch das Verlangen einiger SPD-Rechter ein, er sollte als Parteichef von vornherein auf eine Spitzenkandidatur zu den nächsten Berliner Wahlen verzichten.

Eine »schwierige, mich fast zerreißende Abwägung« sei der Entscheidung vorausgegangen, versicherte der Politiker. Daß mit seiner Kandidatur zum ersten Mal »ein Ossi eine im Westen gewachsene Institution« übernehmen würde, sei das ihn »am meisten bedrängende Argument« gewesen. »Bis zum Heiland der Berliner SPD« hätten ihn einige »hochstilisiert«, klagte Thierse gleichzeitig.

Seine Absage werde »mit Sicherheit den Eindruck verstärken«, er sei nur Feuilletonist der Einheit und für praktische Politik nicht zu gebrauchen, räumte Thierse ein. Der Vorwurf, er drücke sich vor der Verantwortung, sei aber falsch: »Ich habe schon ein, zwei, drei wichtige Führungspositionen in der deutschen Politik.« Neben seinen Verpflichtungen in der Bundes-SPD werde er sich nun stärker in Berliner Angelegenheiten »einmischen«, kündigte er an. Die Berliner SPD müsse »verschimmelte Links-Rechts-Konfrontationen« überwinden und auf »eingespielte Kungelrunden« verzichten.

Die gescholtenen Genossen ließen gestern schuldbewußt den Kopf hängen. Auf die Nennung neuer Kandidatennamen wollte sich öffentlich niemand einlassen. Zum jetzigen Zeitpunkt müßten diese Namen nach »zweiter Wahl« klingen, hieß es. Um für einen neuen Kandidaten »den Boden zu bereiten«, müsse zuvor über eine Reform der Parteistrukturen gesprochen werden, meinte ein einflußreicher Genosse. Die Macht der Kreisvorsitzenden müsse gestutzt werden, eine »Abrüstung der Flügel« tue not.

Hinter vorgehaltener Hand ging die Kandidatendiskussion allerdings weiter. Die Favoritenrolle schien auf dem von Thierse als »hervorragender Mann« gelobten Fraktionschef Ditmar Staffelt zu lasten. Er hatte in den letzten Tagen immer wieder erklären lassen, er stehe nur zur Verfügung, wenn keine andere »starke Lösung« gefunden werde. »Als Parteichef begibt er sich in schwierige Wasser«, warnten gestern Stimmen in seiner Umgebung.

Der mitte-links angesiedelte Staffelt könnte sich zwar der Unterstützung des rechten Flügels sicher sein, stößt jedoch auf Vorbehalte bei einigen Parteilinken, die Partei- und Fraktionsvorsitz nicht in einer Hand sehen möchten. Buttgereit schließt deshalb, wie berichtet, ihre eigene Kandidatur nicht mehr aus. Gestern wurde auch der Reinickendorfer SPD-Kreisvorsitzende Detlef Dzembritzki ins Gespräch gebracht. Er gilt jedoch als chancenlos.

Die anderen Parteien weideten sich genüßlich an der SPD-Personalkrise. CDU-Fraktionschef Klaus Landowsky meinte, für die SPD sei »die beste Lösung seit langem vertan«.

Das Bündnis 90 warf den Sozialdemokraten vor, Thierse vergrault und eine »Chance verpaßt« zu haben. Die AL kritisierte dagegen Thierse: Er hätte das »Raumschiff Bonn« verlassen und die »Knochenarbeit« des Landesvorsitzes übernehmen sollen, erlärte die Igel-Partei. hmt