Die Voliere des Vatikan

Messiaens Oper „Saint Francois d'Assise“ in der Salzburger Felsenreitschule  ■ Von Helmut Mauró

Das Gerüst nimmt fast die ganze Bühnenfläche ein. Kreuzweise und parallel angeordnete Schichten bunter Neonröhren stehen senkrecht im Raum, erwärmen sich langsam zu roter Glut. George Tsypin hat den Bühnenraum gestaltet und dabei diverse Spielflächen errichtet: eine podestartige, kleine Nebenbühne, diagonal nach oben gezogene Pisten, rechterhand ein offenes Holzhaus. Das wurde leider kaum genutzt und diente lediglich als Abstellkammer für den Chor. Auch die frei schwebenden Monitore erzwangen räumliches Sehen und verhinderten, daß man sich auf einen Bühnenausschnitt konzentrierte.

In der Salzburger Aufführung von Messians Summum opus „Saint Francois d'Assise“ prallten zwei Künstlerpersönlichkeiten aufeinander, deren Kunstsinn konträrer kaum sein könnte. Der tief katholisch bewegte Olivier Messiaen und der versponnene, aber doch irdisch gebundene Regisseur Peter Sellars. Messiaen sammelte nicht nur fleißig Vogelstimmen zur späteren kompositorischen Verwertung; neben seiner ornithologischen Begabung besaß er auch spirituelle: Er glaubte an Wunder, an Stigmata insbesondere als „das höchste Kennzeichen der Göttlichkeit im Menschen“. Freunde hätten ihm von solcherart Begnadeten erzählt: Jeden Freitag bluteten diese Wunden. Beweise brauchte Messiaen nicht, er war gläubig.

Auf diesen Messiaen, der sich auch auf göttliche Inspriation berief, traf nun Peter Sellars und schien sichtlich irritiert. Was Messiaen in ruhigen, klaren, verklärten musikalischen Strukturen zu offenbaren suchte, darum bemühte sich Sellars in künstlerisch verwackelten Videobildchen: von Blumen, Bäumen und Kakteen (als Franz den Aussätzigen küßt) und natürlich von den zahlreichen Vögeln, die aus dem Orchestergraben zwitschern. Oft alle gleichzeitig: die italienische Misteldrossel auf der Soloklarinette, im ersten Piccolo die Mönchsgrasmücke, das Rotkehlchen, die Feldlerche, die Singelster und schließlich eine von Messiaens Lieblingsvögeln: die Gartengrasmücke. Am schlimmsten klingt dabei das Ondes Martenot, auf dem nicht nur die Singdrossel und der japanische Uguiso imitiert werden, sondern auch das Herabschweben des Engels. Mit einem kurz hochgerissenen Glissando wird der Auftritt markiert — und das klingt wie aus Plaste.

Die geistige und künstlerische Unbescholtenheit des Komponisten ist in sich schlüssig, ist unantastbares, autarkes Kunstwerk. Peter Sellars dagegen unterbietet sich selbst, wenn er auf gleichem Niveau versucht, mystische Bilder zu entwerfen. Seine Effekte nützen sich schon bald ab, auch der bunt schillernde Neongrill von Tsypin, auf dem alles noch einmal pseudosymbolisch verbraten wurde, was in der Musik und Personenregie passierte. Etwa wenn die Erscheinung des grauen Engels in gleißendes Licht getaucht wird und wenn am Ende Chor und Orchester die Apokalypse inszenieren, während der Grill blinkt wie defekte Leuchtreklame.

Eine der entlarvendsten Peinlichkeiten war der Ausdruckstanz des roten Engels. In leichtem Gewand und ansehnlichen Flügeln schwebte er eurhythmisch über die Bühne, goß aus einer Waschschüssel künstliches Blut auf die Stigmata des heiligen Franziskus.

Und dennoch gab es Momente, in der sich nervös flackerndes Bühnenbild und kompliziert konstruierte Musik zu großer Eindringlichkeit verdichteten. Insbesondere die chorischen Partien im dritten Teil — unerhört präzise und kompetent vorgetragen vom Arnold Schönberg Chor — belegt mit verstörenden Bildausschnitten eines namenlos Leidenden. Sellars verzichtete dabei auf aktuellen Bezug, verließ sich auf die Assoziationskraft von Details, die man nur kurz wahrnahm und deshalb nicht als konkrete Symbole festhalten konnte.

Insgesamt war der Aufwand gewaltig: über hundert Musiker, 150 Choristen und sieben Gesangssoliten, unter denen José van Dam als Franziskus und Dawn Upshaw als grauer Engel hervorstachen. Star des Abends war allerdings der Dirigent Esa-Pekka Salonen. Er führte das Los Angeles Philharmonic Orchestra fünf Stunden lang (reine (Spielzeit) mit staunenswerter Präzision und Frische. Bis zum letzten überdimensionalen Chorschluß hielt er die musikalische Spannung aufrecht und brachte Chor und Orchester auch dann noch zu klanglicher Ekstase.