Anna Karenina — das bin ich!

Arthur C. Danto als Kunsttheoretiker und Kritiker, Erfinder der blauen Krawatte Picassos  ■ Von Rüdiger Zill

Eine Ausstellung zeigt nicht nur das, was sie ausstellt, sondern auch, wie sie es ausstellt, oder besser: sie zeigt uns nicht nur, was wir betrachten, sondern auch, wie wir es betrachten. Im besonderen Maße gilt das von großen Werkschauen, wie etwa der von Rembrandt oder Otto Dix, die in Berlin zu sehen waren. Wie zu betrachten sei, ist — wenn man so will — eine Frage persönlichen Stils.

Da gibt es den Beamten, der das Lebenswerk als Dienstweg mißversteht. Er inspiziert gnadenlos Katalognummer nach Katalognummer, von der allerersten bis zur Totenmaske. Im Zweifel aber sinkt er selbst auf halbem Wege ermattet in die Arme des unvermeidlichen Aufsichtsrentners.

Da ist der Zapper, der planlos durch die Ausstellung tänzelt, sich an diesem erfreut, an jenem stößt, diese übersieht, an jenem sich dafür zweimal delektiert — „as his whimsey takes him“ . Er verlangt nach Übersicht, springt zurück — Totale —, setzt vor — Großaufnahme —, löst in seinem Enthusiasmus fürs Pigment gelegentlich auch die Alarmanlage aus; enter again: das schläfrige Auge mit dem wachen Zeigefinger.

Mit dem Zapper ist der Netzwerker leicht zu verwechseln. Auch er läuft kreuz und quer. Er versucht zunächst das Ganze einzufangen, wählt sich dann einige Stücke aus, um sie näher zu betrachten, prüft, vergleicht: So knüpft er Verbindungen, ist aber auch in Gefahr, sich zu verstricken.

Die Kunsttheorie kennt eine ähnliche Typologie: Ein Freund des geregelten Fortschritts gibt jeder seiner fortlaufenden Thesen — wahrscheinlich nach exzessivem Genuß des Wittgensteinschen Tractatus' — eine Katalognummer. Ein anderer würde sich am liebsten ganz auf den Katalog beschränken und hängt nur gelegentlich und nur sehr widerwillig eine Schwarzweißabbildung zwischen die Seiten. Arthur C. Danto erscheint auf den ersten Blick als unheilbarer Zapper. Bei der Lektüre seines Buches „Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst“, das auf deutsch jetzt dankenswerterweise auch als Taschenbuch vorliegt, fühlt man sich, als hätte man den familiären Kampf um die Fernbedienung verloren.

Bezogen auf etwas

Aber bei genauerer Betrachtung erscheint sein Vorgehen schon weniger planlos, sieht man in ihm doch eher den Netzwerker der Kunsttheorie, der immer an demselben großen Zusammenhang arbeitet und immer neue Verbindungen zu knüpfen versucht. Die Frage, um die Danto immer wieder kreist, ist keine bescheidenere als: Was ist Kunst? Die Verunsicherung, die ihn antreibt, ist die Erfahrung des 20. Jahrhunderts, das Eindringen alltäglicher Dinge in die Welt der Kunstwerke. Was unterscheidet das berühmte Duchampsche Urinal von seinem absolut material- und formidentischen Bruder-im- Sein aus dem benachbarten Männerklo? Was unterscheidet ein Kunstwerk von einem äußerlich absolut identischen schlichten Gebrauchsgegenstand? Danto sucht nach einer spezifischen „ontologischen Differenz“ zwischen beiden, nach etwas, das den Kunstwerken als Kunstwerken zukommt. Auf dieser Suche setzt er sich mit — mehr oder weniger originellen — Argumenten von der Mimesis- und der Institutionentheorie ebenso ab wie von einer Theorie transparenter Medien oder opaken Materials. Besonders wichtig ist ihm, daß die gesuchte Eigenschaft sich nicht auf sinnlich erfahrbare Qualitäten reduzieren läßt. Ebenso verwirft er das andere Extrem, nach dem die Bestimmung, Kunstwerk zu sein, nichts mit diesem selbst als Objekt zu tun hat, sondern ihm vom Betrachter oder einer sogenannten „Kunstwelt“ rein konventionell zugeschrieben wird.

Für Danto sind Kunstwerke zunächst „über“ etwas; sie sind bezogen auf etwas, Dinge nicht. Anders als bloße Dinge haben Kunstwerke Anspruch auf einen Titel (und sei es auch nur den: „Ohne Titel“). Somit gehört Kunst zu den Bereichen, die Gegenstand der Philosophie überhaupt nur werden können. Denn für Danto befaßt sich Philosophie „mit dem Zwischenraum zwischen Sprache und Welt“. Da Kunst andererseits nur ein Kandidat philosophischer Untersuchung ist, heißt das auch, daß sie durch „Bezogenheit“ („aboutness“) noch nicht hinlänglich charakterisiert ist.

Eine Form der Bezogenheit können Kunstwerke zum Beispiel mit reinen realen Darstellungen, etwa simplen Gebrauchsfotografien, teilen: Sie haben (möglicherweise) einen Inhalt, ein Sujet. „Bezogenheit“ heißt aber nicht nur, daß Kunstwerke ein Sujet haben, sondern auch, daß sie in ein ganzes Geflecht anderer Bezüge eingebunden sind, ohne die ihr spezifischer Sinn nicht zu verstehen ist: ihr historischer Kontext, die Person des Autors, seine Nationalität, seine Intentionen. Um zu illustrieren, was er meint, erfindet Danto selbst ein Kunstwerk mit dem Titel „Le Cravat“. Er läßt Picasso eine seiner alten Krawatten vollständig mit blauer Farbe bemalen, in glattem Auftrag, jeder Pinselstrich vollkommen getilgt. Man müßte das dann als Negation, als Verleugnung alles Handwerklichen verstehen, als Polemik etwa gegen die Drip-Technik der New Yorker Malerei von 1950. Anders gesagt: Kunst bezieht sich (immer auch) auf Kunst, nicht (nur) auf Realität. Dadurch zum Beispiel läßt sich Picassos „Cravat“ von einer perfekten Fälschung oder auch von der zufällig völlig blau geratenen Bastelarbeit eines Grundschülers unterscheiden. Das Kind wüßte nicht, was es gemacht, hat beziehungsweise was es nicht gemacht hat.

Man sieht schon: in Dantos Kunstverständnis geht viel Bildungsarbeit ein, er hat eine ausgesprochen hermeneutische Ader. Aber all das ist immer noch nicht hinreichend, um die spezifische Bezogenheit der Kunst zu definieren, sie klar von reinen realen Darstellungen abzugrenzen. Die eigentliche Differenz, die entsteht, wenn ein normaler Alltagsgegenstand in ein Kunstwerk transponiert, transfiguriert, verklärt wird, ist ein Akt der Interpretation, aber ein bestimmter.

Rezeption als Metapher

Die Pointe, die Danto schließlich präsentiert, besteht in einer Rhetorik der Kunst. Sie erscheint in Gestalt der zunächst erstaunlich traditionellen Begriffe „Stil“ und „Ausdruck“. Kunst präsentiert nicht nur einen Inhalt, sondern auch etwas darüber hinaus. Das, was als „mehr“ zum Ausdruck kommt, konzentriert sich im Begriff der Metapher. „Das Kunstwerk verstehen, heißt die Metapher erfassen, die immer da ist, wie ich denke.“ Damit hat Danto einen Lieblingsbegriff neuerer Theorie, Wundermittel aller philosophischen Sparten auch in der Kunsttheorie, heimisch gemacht.

Die Metapher läßt sich auf drei Ebenen lokalisieren. Zunächst im Bild: Etwas wird als etwas anderes dargestellt. Wenn jemand für ein Bild — sagen wir: des römischen Kaisers Augustus — Modell steht, soll seine Identität hinter dem Repräsentierten verschwinden; wir sollen am Ende nur noch Augustus sehen. Anders, wenn zum Beispiel Napoleon Bonaparte in Kleidung und Pose seines kaiserlichen Kollegen erscheint. Dann sieht man beide, Napoleon und Augustus, oder vielmehr zwei in einem: Napoleon als Augustus, jenen durch den Filter von diesem. Nun ist diese spezielle inhaltliche Metapher auch noch keine Besonderheit der Kunst, wie etwa Ernst Gombrich anhand von gewöhnlichen Karikaturen gezeigt hat („Kohl als Birne“). Aber diese Ebene ist es auch nicht, die Danto in erster Linie interessiert. Er macht an ihr vor allem die Strukturen der Metapher deutlich.

Wichtiger ist ihm die zweite Ebene: der Text, das Bild, die Skulptur als Metapher. Ein Gegenstand, eine Darstellung wird in ein Kunstwerk transfiguriert, indem er als Metapher verstanden wird. Gewöhnliche Brillo-Boxes verwandeln sich durch Warhol in eine „draufgängerische Metapher“: Brillo-Kartons-als- Kunstwerk. Arthur C. Danto ist nun so begeistert von seiner Idee, daß er dieser Verallgemeinerung eine weitere folgen läßt. Auch der Rezeptionsvorgang selbst (und das wäre die dritte Ebene) ist eine Metapher. Kunstwerke sind Instrumente der Selbstenthüllung und als solche metaphernförmig. Was Flaubert von seiner Emma Bovary behauptet hat, schreibt Danto von Tolstois großer Heldin: „Anna Karenina, das bin ich.“ Kunst ist Metapher des Lebens.

Dem möchte man nun ungern widersprechen, aber muß das Metapher heißen? Was sich schon bei der ersten Verallgemeinerung andeutete, erfüllt sich nun vollends: Der Begriff wird so verblassen, daß er auf fast alles paßt. Mehr noch: diese Art der Identifikation mit dem anderen geschieht nicht nur in der Kunst. Was auf Anna Karenina gemünzt ist, gilt ebenso für den Merci-Opa oder den „I've got the Ice“-Mann aus der Likör-Werbung, sogar auch für den Nachbarjungen mit dem heißesten Motorroller des ganzen Oberstufenzentrums.

Die strukturelle Parallele zwischen Metapher und Kunst ist immerhin nicht abzustreiten. Auf sie haben schon Monroe Beardsley und schließlich vor allem Paul Ricoeur hingewiesen. Und wie Ricoeur glaubt Danto, daß in der Metapher und damit in der Kunst eine spezifische Weltsicht zum Ausdruck kommt. Die Metapher stellt nicht nur etwas dar, sondern zeigt auch — quasi selbstreflektiv — die Sichtweise, in der dieses Etwas gesehen wird. Sie stellt die Darstellungsweise selbst mit dar. Jeder Künstler hat seinen eigenen Stil, seine eigene Sicht der Dinge, aber die ist ihm nicht bewußt. Er sieht die Welt eben so. Im Kunstwerk — so Danto — komme die Sichtweise jedoch selbst zur Darstellung.

Danto neigt dazu, Kunstwerke stark an die (möglicherweise auch unbewußten) Intentionen ihrer Produzenten zu binden. Gerade daran erweist sich aber, daß Danto die Metapher zwar zum Zentralbegriff erhebt, die vielfältige Diskussion, die sich in den letzten Jahren um diesen Begriff gerankt hat, aber keiner Erwähnung für würdig hält.

Ohne Planziel

Nun, wir wollen nicht kleinlich sein. Danto ist nun mal kein Mann der Fußnote (so wenig, daß der Verlag, wenn doch mal eine auftaucht, nicht einmal weiß, wohin sie gehört, und sie wie Findlinge mitten in die Textlandschaft setzt). Doch irritiert es, wenn er den breiten Konsens der Metaphernforschung ignoriert, nach dem diese Figur hochgradig vom kulturellen Horizont des Adressaten abhängig ist. Schon in einem Aphorismus Lichtenbergs heißt es: „Der Schriftsteller gibt der Metapher den Leib, aber der Leser die Seele“, oder noch pointierter: „Die Metapher ist viel klüger als ihr Verfasser und so sind es viele Dinge.“

Zu diesen Dingen gehört übrigens auch „Die Verklärung des Gewöhnlichen“. Auch wenn Dantos abschließende These vielleicht nicht überzeugt, so sind viele der Auseinandersetzungen und Detailuntersuchungen, die er auf seinem gewundenen Weg anstellt, anregend und ausbaufähig. Und das liegt vor allem daran, daß Danto kein Stratege vom grünen Tisch ist, der mit einem Planziel startet und das Material dann gnadenlos gefügig macht. Zwar gehen in seine Untersuchungen schon ganz bestimmte philosophische Prämissen mit ein — so benutzt er etwa aus der Semantik, der Handlungs- und der Erkenntnistheorie, Modelle, die er in die Ästhetik überträgt —, doch müssen sich diese Voraussetzungen immer in direkter Auseinandersetzung mit dem Material bewähren. Ob er sich mit Rembrandt oder Roy Lichtenstein auseinandersetzt, ob mit Breughel, Cézanne oder Duchamp, nie dienen sie ihm nur als dürre Beispiele für abstrakte Thesen, immer gewinnt er neu Einsichten aus ihnen selbst.

Seit das amerikanische Original der „Verklärung“ 1981 erschienen ist, hat Danto diese Fähigkeit in vielen Aufsätzen, Betrachtungen und Kritiken unter Beweis gestellt. Einige sind inzwischen unter dem Titel „Encounters & Reflections“ gesammelt erschienen. In deutsch liegen allerdings nur zwei kurze Texte in Gestalt zweier Vorworte zu Fotobänden von Cindy Sherman vor. „Untitled Film Stills“ versammelt einige von Cindy Shermans inzwischen schon legendär gewordenen fiktiven Standfotos, auf denen sie selbst in die Rolle der jeweiligen Akteure schlüpft, Darsteller in Filmen, die man immer schon gesehen zu haben glaubt. „History Portraits“ zeigt neuere Arbeiten von Cindy Sherman. Wieder erscheint sie selbst in anderen Gestalten, diesmal dienen ihr Werkstücke aus dem Fundus der Kunstgeschichte als Vorlage, teils eindeutig identifizierbare wie Raffaels „La Fornarina“, teils mehr dem allgemeinen Geist einer Epoche folgende.

Danto mißbraucht die Vorworte der beiden Bände nun nicht für Kurzdarstellungen seiner eigenen Theorie. Statt dessen untersucht er die Entstehung und Wirkung der Bilder im Spannungsfeld von Fotografie und Performance, Selbstdarstellung und kulturellem Klischee. Dennoch läßt er aber auch keinen Zweifel daran, daß diese Fotos wie wenige Arbeiten der letzten Jahrzehnte den Anspruch an große Kunst erfüllen, „die transformativen Metaphern für die Bedeutung der menschlichen Wirklichkeit bereitzustellen“.

Und so zeigen sich paradoxerweise fast schon gegen den Willen Arthur Dantos die Leistungsfähigkeit und die Grenzen seiner Kunsttheorie in den Fotos von Cindy Sherman. Es ist immer sie selbst, die in den „History Portraits“ erscheint, etwa als „La Fornarina“. Sie zitiert Raffael und wandelt ihn ab. So thematisiert sie ausdrücklich die Bezogenheit von Kunst — und zeigt, was es heißen kann, die Darstellungsweise selbst darzustellen — und ironisiert sie gleichzeitig, spielt mit ihr.

In dieser „Sherman-als-La-Fornarina“ scheinen die vielfältigen Möglichkeiten des metaphorischen Bezuges von Kunst gleichzeitig zum Ausdruck zu kommen. Daß es sich bei diesen Fotos um Metaphern-im- Bild handele, streitet Danto allerdings ab. Sherman ist für ihn lediglich ein Modell, das hinter den Darstellungen verschwindet. Aber es ist nicht irgendein Modell, sondern immer die Künstlerin selbst. Danto gesteht zu, daß das von Bedeutung ist, verschweigt aber, von welcher.

Auf der zweiten Ebene der Metapher sieht man „ein-Bild-von-Sherman-als-ein-Bild-von Raffael“. Wenn man so will, ist hier die historische Bezogenheit der Kunst selbst zur Darstellung gebracht.

Schließlich stellt Cindy Sherman auch dar, was Flaubert von sich selbst nur sagt: La Fornarina, das bin ich. Da sie es aber immer wieder und von je anderen sagt, ironisiert sie auch das: Der Identifikation wird ihr Pathos genommen und der Betrachter im Gegenzug selbst eingeladen, die multiple Persönlichkeit in sich zu entdecken. Vielleicht hat Danto nicht nur ein Vorwort zu Cindy Sherman, sondern Sherman auch ein Nachwort zu Arthur Danto geschaffen.

Arthur C. Danto: „Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst“, Suhrkamp Verlag, 322 Seiten, 20 Mark.

Arthur C. Danto: „Encounters & Reflections. Art in the Historical Present“, Farrar Straus, Giroux, New York, 1990, 356 Seiten.

Cindy Sherman: „Untitled Films Stills“, mit einem Text von Arthur C. Danto, Schirmer/Mosel, München 1990, 120 Seiten, 40 Duotone- Tafeln, 78 Mark.

Cindy Sherman: „History Portraits“, mit einem Text von Arthur C. Danto, Schirmer/Mosel, München 1991, 64 Seiten, 38 Farbtafeln, 49,80 Mark.