Als Litauen judenfrei sein wollte

Die Kollaboration mit Nazi-Deutschland ist im neuen, unabhängigen Litauen kein Thema. Verdrängung und Stolz bestimmen die Geschichtsdebatte  ■ Von Klaus Bachmann

Das jüdische historische Museum der litauischen Hauptstadt Vilnius liegt in einer steilen Sackgasse am westlichen Rand der Altstadt. Ein grünes Holzhaus mit kühlen Räumen, in denen eine handgebastelte Ausstellung über den Holocaust in Litauen zu sehen ist. Schwarze Pappstreifen, auf die Fotos, Tabellen und Begleittexte in Litauisch und Russisch aufgeklebt sind.

In einem kleinen Büroraum sitzt Rachela Margolis, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Museums. Sie übersetzt gerade ein handgeschriebenes Heftchen aus dem Polnischen ins Litauische. Der Text wurde nach dem Krieg in Ponary gefunden, wild beschriebene Blätter, teilweise aus Kalendern ausgerissen. Der Autor, ein polnischer Journalist namens Kazimierz Sakowicz, hatte alles beschrieben, was ihm in die Finger kam. Wie ein Besessener hatte er akribisch Buch geführt über Massenerschießungen, deren Zeuge er als Bewohner von Ponary wurde. Kein Transport entging ihm.

Ein Alptraum, in zittriger Handschrift für die Nachwelt gekritzelt auf kleine Papierfetzen und Notizblätter, in Flaschen gepfropft und vergraben. Ungefähr 100.000 Opfer, überwiegend Juden, einige Polen und sowjetische Partisanen und Kriegsgefangene, wurden in Ponary in den drei Jahren der deutschen Besatzung zwischen 1941 und 1944 in Massenerschießungen ermordet — von den „Ponarer Schützen“, einer fast ausschließlich litauischen Sondereinheit unter Aufsicht der SS.

Eines der Mitglieder der Einheit erklärte nach dem Krieg vor Gericht, mit welcher Intensität die Endlösung der Judenfrage betrieben wurde: „Es war furchtbar, sowohl für die Opfer als auch für uns. Die Schultern taten weh von den Kolben und die Finger vom ständigen Nachladen, die Ohren waren geschwollen von den Detonationen und den verzweifelten Schreien. Wir schossen in die Hinterköpfe. Es gab allerdings den Grundsatz, daß wenn jemand ein Kind auf dem Arm hatte, er uns das Gesicht zuwenden mußte. Dann galt der erste Schuß ihm, der zweite dem Kind.“

Sakowicz sah das alles; er blieb und führte Buch. „Kein Volk hat so viele Morde auf dem Gewissen wie das litauische“, schrieb er. Daß er übertrieb, konnte er nicht wissen. Doch auch Rachela Margolis, die aus dem Getto des damaligen Wilna zu sowjetischen Partisanen in die Wälder floh, weil sie ihr polnischer Nachbar denunziert hatte, ist auf die litauischen Kollaborateure nicht gut zu sprechen: „Wir haben uns manchmal an Deutsche gewandt um Hilfe vor den Litauern. Mit den Deutschen konnte man wenigstens noch reden.“

Wehrmacht als Befreier

„Als die deutsche Armee am 22. Juni 1941 die Sowjetunion angriff und bereits zwei Tage später Vilnius besetzte, wurde sie von vielen Litauern als Befreier empfangen“, gibt Arunas Bubnys, junger Wilnaer Historiker und Spezialist für die Zeit des Zweiten Weltkrieges, zu. Nur etwas über ein Jahr zuvor hatte die Rote Armee aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes Litauen besetzt und in die „Litauische Volksrepublik“ verwandelt. Von Deutschland erhofften sich die Litauer eine Rückgewinnung ihrer Souveränität.

Schon am 17. November 1940 entstand so nach intensiven Bemühungen des litauischen Botschafters in Berlin, Kazys Skirpa, die prodeutsche nationalistische „Litauische Aktivistenfront“ (LAF), die noch vor dem deutschen Einmarsch ein von den Deutschen geduldetes Übergangskabinett bildete. Noch im Juni 1941, bevor die ersten deutschen Einheiten Kaunas erreichten, fielen litauische Nationalisten über die dortigen Juden her. 1.500 Juden wurden umgebracht, viele davon unter den Augen von Schaulustigen, die zusahen, wie ihre Landsleute ganze Familien mit Eisenstangen totschlugen.

In Litauen trafen die deutschen Pläne von der „Endlösung der Judenfrage“ auf fruchtbaren Boden. Lange vor der Wannseekonferenz wußten die litauischen Sonderverbände, was von ihnen erwartet wurde. Schon am 11. Dezember 1941 konnte der deutsche „Sicherheitsdienst“ (SD) aus Vilnius melden, die Judenfrage sei in Litauen im großen und ganzen gelöst. In der kurzen Zeit seit dem deutschen Einmarsch waren insgesamt 137.346 Bewohner Litauens erschossen worden, fast ausschließlich Juden. Bis Kriegsende sollte die Zahl der Opfer auf über 200.000 ansteigen. Verantwortlich für die Massenmorde sind in den Augen der Litauer allein die deutschen Behörden: „Sie müssen beachten, daß die litauischen Verbände den Deutschen unterstellt waren. Sie haben nur deutsche Befehle ausgeführt“, sagt Arunas Bubnys. Doch die „Saulys-Verbände“, wie die Ponarer Schützen genannt wurden, waren ebenso wie die Hilfspolizeiregimenter Freiwillige, die für ihre Arbeit bezahlt wurden.

Litauische Freiwilligenverbände nahmen nicht nur an Massenexekutionen in Litauen selbst, sondern auch in Polen und Weißrußland teil. Sie bewachten auch Konzentrationslager auf polnischem Territorium, so etwa das Vernichtungslager Majdanek bei Lublin.

Der Feind heißt Polen

Daß sich Litauen in letzter Zeit gezwungen sieht, seiner tabuisierten Vergangenheit in die Augen zu sehen, hat es vor allem polnischen Historikern zu verdanken. Als die Sowjetunion 1939 Ostpolen besetzte, übergab sie das bis dahin polnische Wilna (Vilnius) an Litauen. Und als Deutschland dann Wilna besetzte und die polnische Untergrundarmee ihren Partisanenkampf auf die Stadt ausdehnte, sahen die Litauer das vor allem als Gefahr für ihre Ansprüche auf Wilna an.

Folglich bekämpften polnische Partisanen die litauischen Polizei-, Schützen- und Freiwilligenverbände genauso wie deren deutsche Brötchengeber. Die wiederum zahlten es ihnen mit Übergriffen gegen die überwiegend polnische Zivilbevölkerung der Wilna-Region heim.

Kein Wunder, daß die litauische Presse an den Verbänden der polnischen Heimatarmee kein gutes Haar läßt — was bereits die sowjetische Propaganda geschickt ausnutzte, um Zwietracht zwischen Polen und Litauen zu säen. So waren es 1989 vorwiegend sowjetische Blätter, die in demagogischen Kommentaren über die Heimatarmee herfielen und damit auch bei der litauischen Volksfront „Sajudis“ auf Sympathie stießen. Worauf sich polnische Historiker bemüßigt sahen, die litauische Kollaboration mit dem Hitler-Regime gegen Polen und Juden aufs Tapet zu bringen.

Roman Korab-Zebryk, polnischer Weltkriegshistoriker aus Wilna und damals sogar Nachbar des Journalisten Sakowicz, sagt: „Die Heimatarmee bekämpfte Litauer nur insoweit, wie diese mit der deutschen Besatzung zusammenarbeiteten. Die litauischen Verbände übten dagegen systematischen Terror auf die polnische Zivilbevölkerung aus und versuchten durch Umsiedlungen und Deportationen, die polnische Bevölkerung zu litauisieren und die ethnische Zusammensetzung zu verändern.“ Auch er läßt indessen keinen Zweifel daran, „daß Wilna aus ethnischen, kulturellen und staatsrechtlichen Gründen polnisch war und ist“.

Der Kampf um Wilna dauert bis heute an. Nicht nur, weil sich jenseits der Grenze in Polen wieder Stimmen zu Wort melden, die auch die Legitimität der polnisch-litauischen Grenze in Frage stellen. Daß die Wunde Wilna auch in Litauen noch offen ist, zeigt die Tatsache, daß nach dem neuen litauischen Staatsbürgerschaftsgesetz nur Emigranten mit nachgewiesener litauischer Nationalität wieder eingebürgert werden dürfen. Würde man das Gesetz auch auf Angehörige der nationalen Minderheiten ausdehnen, könnten diese auch Reprivatisierungsansprüche stellen. „Dann wäre Litauen bald wieder polnisch“, bringt es eine litauische Unternehmerin auf den Punkt. Aber das Gesetz versperrt auch den jüdischen Emigranten die Rückkehr.

Mit der Nazi-Kollaboration sieht sich Litauen seit 1990 konfrontiert, als das Gesetz zur Rehabilitierung der Opfer der stalinistischen Säuberungen nach dem Krieg verabschiedet wurde. Insgesamt etwa 40.000 Litauer waren davon betroffen. Rehabilitiert werden sie indessen ohne Rücksicht auf die Gründe, die damals zu ihrer Verurteilung führten.

So fanden Ermittler des Wiesenthal-Centers vor einem Jahr heraus, daß auch Kriegsverbrecher rehabilitiert worden waren. Faina Kuklianskyte, Wiesenthal-Vertreterin in Litauen: „Einige waren in den Freiwilligenbataillonen gewesen, andere bei den Wachmannschaften in Majdanek, andere waren Mitglieder der Polizeibataillone.“ Das offizielle Litauen reagierte empört — nicht auf die Tatsache, sondern auf ihre Veröffentlichung. Kuklianskyte: „Seither verweigern uns die Behörden die Einsicht in die Rehabilitierungsunterlagen. Die Rehabilitierung findet unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt.“

Nach außen hin werden Spuren verwischt: Litauen hat erst vor kurzem die internationale Konvention gegen die Verjährung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit unterzeichnet. Kriegsverbrecher dürfen auch nach litauischem Gesetz nicht rehabilitiert werden — doch, meint Frau Kuklianskyte, sei man in Litauen der Ansicht, es gebe allenfalls deutsche, keinesfalls aber litauische Kriegsverbrecher, und daher sei das kein wirkliches Hindernis.

Das Wiesenthal-Zentrum in Los Angeles übergab dem litauischen Generalstaatsanwalt eine Liste von elf Rehabilitierten, die in Massenmorde verwickelt waren. In sieben Fällen mußten die Behörden dies bestätigen. Man vereinbarte, eine gemeinsame israelisch-litauische Kommission solle die Rehabilitierung überprüfen. Die ist bisher noch nicht zusammengetreten. Dafür wurde der nächste verurteilte Kriegsverbrecher rehabilitiert — unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Verdrängt wird bis in die höchsten Staatsämter: „Mindogas Losys, der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs, hat selbst versucht, in Briefen Zeugen dazu zu veranlassen, ihre Aussagen im Gecas-Prozeß zu ändern“, weiß Faina Kuklianskyte.

Antanas Gecas, ein heute in Schottland lebender 76jähriger Mineningenieur, nahm 1941 in einem litauischen Polizeibataillon am deutschen Einmarsch in Litauen teil und gibt sogar zu, bei Massenerschießungen in Weißrußland dabeigewesen zu sein. Als ihn das schottische Fernsehen 1986 deshalb als Kriegsverbrecher bezeichnete, klagte er. Die Schotten ließen im Gegenzug Mitglieder seines Bataillons und Überlebende aufmarschieren. Doch der 76jährige, der später in die britische Armee eintrat und britischer Staatsbürger wurde, bleibt bis heute dabei, er habe niemanden getötet.

In Litauen würde ihm kaum ein Haar gekrümmt. Das offizielle Litauen demonstriert ostentativ ein gutes Gewissen. Als „Sajudis“ zu einer Unterstützungsdemonstration für Litauens Parlamentspräsident Landsbergis vor dem Parlament aufrief, kamen auch Saulys-Veteranen in Paradeuniform. Seine „apolitische Organisation“ sei gerade dabei, sich wiederzugründen, erklärte stolz ein 70jähriger. Litauens Geheimpolizei nennt sich „Saugumo“ — genauso hieß die gefürchtete Geheimpolizei vor dem Krieg, deren Mitglieder zum Teil dann von der Gestapo übernommen wurden.

Heute leben in Vilnius nicht mehr als 5.000 Juden. Von den über tausend Gebetshäusern und Synagogen vor dem Krieg ist nur noch eine einzige übriggeblieben. Auf den Skandal der Rehabilitierung ehemaliger Kriegsverbrecher hat die jüdische Gemeinde erschreckt reagiert. Auch dort fürchtet man, schlafende Hunde zu wecken. „Seither bin ich das schwarze Schaf“, meint Faina Kuklianskyte. Aber aufgeben will sie nicht: „Dieses Land wird erst dann wirklich frei sein, wenn es sich seiner Vergangenheit stellt.“