Serienweise leergucken!

■ TV-Vorabend-Programm bei Radio Bremen: neue Serien, prima Ansichten

Gerade auch, wenn Sie bisher nicht ständig Architektur-Zeitschriften verschlungen oder dicke Gedicht-Bände gewälzt haben: die beiden neuen Fernseh-Serien, ab September kurz vor bunten & binnen, könnten Ihnen gefallen.

Erstens: Architek-Tour. Nur jeweils drei oder fünf kurze Minuten lang zeigen Annette Strelow und Nils Aschenbeck, was man an neuen und alten Gebäuden in der Region sehen könnte — wenn man hinguckte. Die Stärke der Serie liegt in ihrer Beschränkung: gefilmt wird von außen, fast kühl. Menschen kommen nicht vor, auch keine sozialen oder politischen Hintergründe. Aber wie mit Menschenaugen streift, streichelt die Kamera die Gebäude, hält nie, wirklich niemals inne, steigt die Fassade hoch, zeigt kleinste Details oder das Ganze aus gewaltiger Höhe, von ganz unten. Kein Foto, kein Archivbild, keine Postkarte ist als Standbild einmontiert. Es geht um Ästhetik: um die Wahrnehmung, eben nur um den Bau, um Villen und Fabriken, Plätze, Wohnhäuser, Schulen. Aber wie: Bei der Roland-Mühle, ehemals Europas größter Industriebau, sehen wir langsam die dicken, wie Schiffe genieteten Silos, steigen die Fassade hoch, „die sich in der Höhe steigert“, sehen oben den Schriftzug „aus purem Blattgold“. Die Texte muten den Vorabend-GuckerInnen nicht zuviel zu, lassen Pausen. Die MacherInnen haben Bilder gefunden zu den Bildern, sie zeigen das Alfred-Wegner-Institut als „kaltes Kunstwerk“, das „trotz der Geometrie der Quadrate und Rechtecke wie ein Schiff erscheint“, sie beschreiben das Kraftwerk am Weserwehr als „inszenierte galaktische Architektur, in Silber überhöht“, mit Kohleförder-Bändern, die wie die Passagierschleusen an Flughäfen aussehen. Moderne Architektur, auch als Industriebau, ist eben nicht grau und gerade.

„Ein Gedicht“, so eine Serie das gab es im letzten Jahr schon. Diesmal wird besonderer Wert auf die Inszenierung gelegt. Da kommt ein Patient (Sprecher Hans Kemner) in ein Wartezimmer, setzt sich, sieht zur Uhr, fixiert einen anderen Wartenden (Thomas Turner) und vertraut ihm mit Ringelnatz an: „Der Blitz hat mich getroffen...“ Oder: Kemner kommt in ein wunderbar durchschnittliches Oytener Hotel. Stößt auf ein Flaschenbier mit dem übernächtigten Portier an. Und spricht das romantische Gedicht des Reisenden, Müllers Lindenbaum: „Am Brunnen vor dem Tore...“ Die Inszenierungen sind meistens witzig, immer überraschend, wollen vor allem nie nie nur den Text illustrieren. Gar nicht so einfach, die Vorabend- GuckerInnen mit oder totz Lyrik vom Umschaltknopf wegzuhalten! Regisseur Hans Helge Ott will sich „nie gegen das Gedicht stellen“, ihm aber Unerwartetes und vor allem Humor zur Seite stellen, „den hab ich schon in der Schulzeit ziemlich vermißt“.

Mit einem gigantischen Vorhaben steigt Radio Bremen als Produzent von Vorabend-Serien ins ARD-Geschäft ein. Ab September drehen zwei Teams an 13 Folgen a 50 Minuten: „Die schönsten Jahre unsres Lebens“, eine Serie um eine Bremer Schule, um die Turbulenzen beim Erwachsenwerden, um Kräche zwischen SchülerInnen, Lehrern und Eltern. Vorabend-Serien haben kein konzentriertes Spielfilm- Publikum. Die GuckerInnen „müssen immer sicher sein: wo bin ich?“ erklärte Redakteur Bernhard Gleim, „wichtig sind verläßliche, immer wiederkehrende Elemente, Nebenfiguren, die die einzelne Folge sofort erkennbar machen“. Trotzdem soll den „patriarchalischen Lebensmustern wie in der Schwarzwaldklinik“ etwas anderes entgegengesetzt werden. In der Bremer Serie gibt es nicht den Lehrer Dr. Specht, der schließlich alle Probleme wieder richtet. Hier handeln vor allem die Kinder, in ihren chaotischen Familien. Tatort wird die Gustav-Heinemann- Schule mitten in Bremen sein, ein alter Kasten, der früher Kaiser- Wilhelm-Gymnasium hieß. Gedreht wird in Bremen und Umgebung, ab September, Sendestart ist 1994. Susanne Paas