Brasilien: Straßenkinder und geistig Behinderte helfen sich gegenseitig

■ Ein Striptease brach das Eis

Ein Striptease brach das Eis

Santos (taz) — Ivani küßt den Boden. Ihre schwarzen kurzgeschnittenen Haare stehen zu Berge, ihr Büstenhalter lugt unter dem knappen roten Oberteil hervor. Plötzlich rafft sie sich auf und drückt dem Gitarristen Fransisco, der neben ihr auf einem Stuhl sitzt, einen feuchten Kuß auf die Wange. Ivani ist eine der 27 LangzeitpatientInnen im Sanatorium „Casa da Saude Anchieta“ in der brasilianischen Hafenstadt Santos. Seitdem sie und ihre Mitbewohner regelmäßig singen und klatschen, hat sich die beklemmende Anstaltsatmosphäre gelöst. Dies hat einen besonderen Grund: Die Musiker sind nicht etwa erfahrene Gruppentherapeuten, sondern Außenseiter mit ansteckender Lebenskraft: Straßenkinder.

„Ich habe Mitleid mit ihnen, sie wissen nicht, was in der Welt vorgeht“, meint Alex Sandro. Stolz erzählt der 16jährige, daß die Patienten sie ins Herz geschlossen haben. Für ihn ist das wöchentliche Zusammentreffen mit den Bewohnern der „Casa Anchieta“ eine Art Dankeschön an ihre Gastfreundlichkeit.

Gastfreundschaft? Jawohl. Ohne die Hilfsbereitschaft der geistig Behinderten würden die Straßenkinder von Santos heute nämlich immer noch im Pappkarton unter der Brücke schlafen. Die Annäherung zwischen den beiden Außenseitern der brasilianischen Gesellschaft ergab sich vor etwa drei Monaten, als der Versammlungsraum, den die Stadtverwaltung einer Gruppe von Straßenkindern tagsüber zur Verfügung stellte, aus Sicherheitsgründen aufgegeben werden mußte.

Auf der hastigen Suche nach einer Alternative kam Anamara Simoes Martins, Psychologin beim Sozialamt der Stadtverwaltung von Santos, mit dem Leiter der „Casa Anchieta“, Roberto Tykanori Kinoshita, ins Gespräch. Dieser bot der Psychologin für ihre Gruppe von 20 Kindern einen Raum neben dem Trakt der Langzeitpatienten an.

„Am Anfang waren wir alle mit Vorurteilen behaftet“, gesteht Anamara Simoes. Die Patienten hatten Angst vor dem „Einfall perverser Straßenjungen in ihre vier Wände“, die Kinder fürchteten sich vor der Unberechenbarkeit und Aggressivität der „Anchieta“-Bewohner. „Inmitten dieser angespannten Atmosphäre begann Ivani plötzlich mit einem Striptease“, erinnert sich die 32jährige an die erste Versammlung zwischen Patienten, Straßenkindern und Betreuungspersonal. „Da war das Eis gebrochen.“

Die Jugendlichen brauchten nicht lange, um sich mit den 27 Patienten anzufreunden. Gemeinsame Mahlzeiten, Spiele und Spaziergänge, Theater und Kino brachten sie einander näher. Die Kinder schnitten ihren Gastgebern die Haare, halfen den Männern beim Rasieren und erzählten ihnen Geschichten.

Die Straßenkinder zeigten sich beeindruckt von dem Kontakt mit Personen, die zum Teil über dreißig Jahre lang eingesperrt und von allen Familienangehörigen verlassen worden waren. „Die Kinder stießen auf Personen, die sich in einer noch schlechteren Situation befinden als sie selbst. Sie haben jemanden gefunden, um den sie sich kümmern können und der sich um sie kümmert“, erklärt Anamara Simoes.

Die gelungene Annäherung zwischen Straßenkindern und den Patienten der „Casa Anchieta“ ist nur eines der zahlreichen geglückten Experimente, die die tiefgreifenden Änderungen im Bereich Psychiatrie in Santos widerspiegeln. Bereits international bekannt ist das von geistig Behinderten produzierte Radioprogramm „Tam Tam“. Die tägliche 30-Minuten-Sendung, eine Mischung aus Rockmusik, Interviews und Humor, wird vom „Radio Clube de Santos“ ausgestrahlt.

Die grundlegende Reform im Bereich der Klinischen Psychiatrie begann am 17. Mai 1989, als die Bürgermeisterin von Santos, Telma de Souza, die „Casa Anchieta“ gewaltsam der Stadtverwaltung unterstellte. Der Grund für das radikale Eingreifen waren drei Todesfälle innerhalb von drei Monaten sowie die zahlreichen Denunziationen von Folter und Mißhandlungen, die durch die Anstaltsmauern hindurchdrangen.

Bei einem Inspektionsbesuch fanden Bürgermeisterin Telma de Souza, Mitglied der brasilianischen Arbeiterartei PT, und Psychiater Roberto Tykanori Patienten haufenweise nackt im Hof gestapelt, mit der Begündung, von sieben bis 20 Uhr müsse das Sanatorium gereinigt werden. Die 540 Anstaltsbewohner waren in 250 Betten zusammengepfercht. Widerstand wurde mit Einzelhaft in der Gummizelle, Folter, Zwangsjacke und Injektion von Beruhigungsmitteln bestraft.

„Die Psychiatrie ist die einzige Macht im Land, die lebenslängliche Haftstrafen verhängt“, kritisiert Delgado das herrschende System. Es gäbe eine regelrechte Industrie, die daran üppig verdienen würde. Fest steht, daß die 427 Anstalten in ganz Brasilien den größten Teil des Etats des Gesundheitsministeriums für sich beanspruchen. „Außerdem“, so Delgado, „benutzen viele Familien das unmenschliche System dazu, um ihre Erbstreitigkeiten zu bewältigen.“ Astrid Prange