Nur die Spitze des Eisbergs ist sichtbar

Das Eisberg-Projekt vom Internationalen Lesben- und Schwulenverband (ILGA) dokumentiert Fälle von Diskriminierung von Lesben und Schwulen in Europa/ In einigen europäischen Ländern gibt es seit den 80er Jahren Anti-Diskriminierungsgesetze  ■ Aus Berlin Dorothee Winden

Für die Diskriminierung von Lesben und Schwulen in Europa ist das Bild von der Spitze des Eisbergs immer noch treffend: Diskriminierungen finden in großem Umfang statt, aber nur ein kleiner Teil von ihnen ist sichtbar. „Die Spitze eines Eisbergs“ lautet denn auch der Titel einer Dokumentation des Internationalen Lesben- und Schwulenverbandes (ILGA), der „Diskriminierung in Europa aufdecken und bekämpfen“ soll. Bereits im Zwischenbericht — die endgültige Fassung soll im Dezember dieses Jahres vorgelegt werden — sind auf über einhundert Seiten akribisch Diskriminierungsfälle aufgelistet, die sich zwischen 1980 und 1990 ereignet haben. Der Schwerpunkt liegt bisher auf Westeuropa, da aus Osteuropa weniger Informationen vorliegen und diese erst noch in den Bericht aufgenommen werden müssen.

Um nur einige Fälle herauszugreifen: Auf Sizilien werden 1981 zwei Frauen, die sich in einem Park geküßt hatten, wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses angeklagt. Ein Gericht in Agrigent verurteilt die beiden zu sieben Monaten Haft.

In seinem Testament beerbt ein schwuler Franzose drei seiner Freunde. Die Familie ficht nach seinem Tod das Testament an — mit Erfolg. Am 28.Juni 1985 urteilt ein Pariser Gericht, daß das Testament nichtig ist, da der Nachlaß als Bezahlung „unmoralischer Beziehungen“ zu betrachten sei. Eine britische Lesbe, die von vorgesetzten männlichen Kollegen belästigt wird, beschwert sich. Danach werden die anzüglichen Bemerkungen und sexuellen Anspielungen noch schlimmer. Wegen des dadurch ausgelösten Stresses fallen der Frau die Haare aus, sie beschließt den Job aufzugeben. Mit Hilfe der Gruppe Lesbian Employment Right klagt sie und erhält 1989 von ihrem Ex-Arbeitgeber in einem Vergleich 2.000 Pfund Schmerzensgeld.

Neben der gesellschaftlichen Diskriminierung gibt es in zahlreichen europäischen Staaten immer noch gesetzliche Regelungen, die Lesben und Schwule benachteiligen. In Großbritannien gilt für schwulen Sex eine Altersgrenze von 21, für Heteros und Lesben liegt sie bei 16 Jahren. 1989 wurden rund 3.500 Männer wegen „Unanständigkeit“ — gemeint ist Sex mit Männern unter 21 Jahren oder Sex in öffentlichen Toiletten oder Parks — verfolgt. 2.700 Schwule wurden dieser „Vergehen“ überführt, mehr als 90 erhielten Gefängnisstrafen. Allein die Gerichtsverfahren haben die britischen SteuerzahlerInnen 12 Millionen gekostet, die Inhaftierung der 90 Schwulen weitere 1,2 Millionen Pfund.

Auch in einigen Ländern Osteuropas gibt es Gesetze, die homosexuelle Handlungen unter Strafe stellen. In Litauen gilt immer noch der Paragraph 122 des Strafgesetzbuches, der Analverkehr zwischen Männern unter Strafe stellt. „Gegenwärtig sind insgesamt 29 Männer aufgrund des Paragraphen 122 inhaftiert, davon wurden sieben verurteilt, nachdem Litauen die Unabhängigkeit erklärt hat“, zitiert die norwegische Lesben- und Schwulenzeitung Blikk Geir Hagland von der norwegischen Arbeiterpartei. Wie Hagland von Vertretern des Litauischen Lesben- und Schwulenbüros erfuhr, ist einer der Gefangenen in Haft vergewaltigt und dann getötet worden.

Doch auch im als fortschrittlich geltenden Finnland verbietet ein Paragraph (Paragraph 20:9.2, Strafgesetzbuch) die „öffentliche Ermutigung von ,Unzucht‘ zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechts“. Höchststrafe sind sechs Monate Gefängnis. Als „Ermutigung“ gilt beispielsweise das Verteilen von Flugblättern über schwule Rechte.

Der Eisberg-Bericht dokumentiert auch diskriminierende und Anti- Diskriminierungsgesetze, des weiteren Gerichtsurteile und Beschlüsse internationaler Organisationen. In Europa besteht, was die anti-diskriminierende Gesetzgebung betrifft, ein Nord-Süd- und ein Ost-West-Gefälle. Vor allem die nördlichen Industriestaaten Europas haben in den 80er Jahren Anti-Diskriminierungsgesetze verabschiedet oder entsprechende Verfassungsartikel erweitert: Norwegen (1981), die Niederlande (1983), Frankreich (1985), Dänemark und Schweden (1987). In Belgien ist ein solches Gesetz geplant.

In drei Ländern bestehen Gesetze oder Richtlinien, die eine Benachteiligung am Arbeitsplatz oder Kündigung aufgrund der sexuellen Orientierung verbieten. Die weitestgehende Regelung ist 1985 in Frankreich verabschiedet worden. Nach Absatz 3 des Artikels 416 Strafgesetzbuch muß ein Arbeitgeber mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen, wenn er einen Arbeitnehmer wegen seines Geschlechts, seiner Familiensituation oder seiner moers (Sitten) entläßt oder nicht einstellt. Die Höchststrafe beträgt ein Jahr Gefängnis und eine Geldbuße von 20.000 Francs. Der Begriff moers schließt die sexuelle Orientierung ein. Auch im Arbeitsrecht sind 1986 firmeninterne Bestimmungen untersagt worden, die Beschäftigte aufgrund ihrer moers benachteiligen.

In Irland hat das Finanzministerium eine Richtlinie erlassen, wonach im öffentlichen Dienst niemand wegen seiner sexuellen Orientierung oder seines HIV-Status diskriminiert werden darf. Auch das britische Kabinett hat in einem Rundschreiben an alle Regierungsstellen darauf hingewiesen, daß die Benachteiligung Homosexueller im Staatsdienst nicht hingenommen wird und daß die Belästigung Homosexueller als Disziplinarvergehen geahndet wird.

Dagegen ist die Bundesrepublik auf diesem Gebiet ein Entwickungsland. Das vom Europäischen Parlament und der Parlamentarischen Versammlung des Europarats empfohlene einheitliche „Schutzalter“ für Homo- und Heterosexuelle ist noch nicht eingeführt worden. Zwar haben sich FDP/CDU/CSU-Koalition im Dezember 1990 auf die Abschaffung des Paragraphen 175 geeinigt, ein entsprechender Gesetzentwurf ist jedoch immer noch nicht in den Bundestag eingebracht worden. Es gibt in der BRD weder eine generelle Anti-Diskriminierungsklausel noch ausdrückliche arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen für Lesben und Schwule, ganz zu schweigen von gleichen Rechten für lesbische und schwule Paare.

In Dänemark können lesbische und schwule Paare, die zusammen wohnen, ihre Partnerschaft registrieren lassen (siehe Bericht unten). In Schweden sind nicht-eheliche Lebensgemeinschaften in Teilbereichen der Ehe gleichgestellt. Das sogenannte „Sambo-Gesetz“ gilt seit dem 1.1.1988 auch für lesbische und schwule Paare. Als nicht-eheliche Lebensgemeinschaft gilt „eine längere, mindestens sechs Monate dauernde Verbindung, die durch ein gemeinsames Sexualleben, gemeinsame Haushalts- und Wirtschaftsführung, sowie einen gemeinsamen Hausrat geprägt ist.“ Eine standesamtliche Registrierung ist nicht notwendig. Wer will, daß das Gesetz nicht angewendet wird, muß einen entsprechenden Vertrag abschließen. Auch in den Niederlanden haben sich 1990 fast alle politischen Parteien dafür ausgesprochen, eine registrierte Partnerschaft für homo- und heterosexuelle Paare einzuführen. Nach Berichten von Blikk will auch das norwegische Familienministerium diesen Herbst einen Entwurf für ein Partnerschaftsgesetz, der sich am dänischen Modell orientiert, in das Parlament einbringen.

Der „Eisberg“-Zwischenbericht kann für 15 Mark bestellt werden bei: Iceberg, Department of Gay and Lesbian Studies, University of Utrecht, P.O. Box 80140, NL- 3508 TC Utrecht

Zum Weiterlesen: Klaus Laabs (Hrsg.), Lesben. Schwule. Standesamt. Die Debatte um die Homo-Ehe, Ch. Links Verlag, Berlin, 1991

Katrin Behrmann, Bea Trampenau, Mit der Doppelaxt durch den Paragraphen-Dschungel, Rechtsratgeberin für Lesben (und Schwule und andere Unverheiratete), Frühlingserwachen, Hamburg, 1991