Aleksandar Tisma: Wiederkehr der Geschichte

Ja, es ist wieder Krieg um mich. Und ich sitze in meinem Zimmer oder am Ufer der Donau (denn es ist Sommer) und lese ein Buch. Wenn es durchgelesen ist, lese ich ein anderes. Manchmal ist es ein Buch über den Krieg oder auch über einen bestimmten Krieg, manchmal aber etwas ganz anderes, ein Liebes- oder Altersroman, ein Buch über einen Alkoholiker oder über einen Gangsterhäuptling. All das ist sehr interessant, sehr aufregend. Freilich ist das auch der Krieg, der um mich tobt, während ich lese.

Auch als der Krieg zum ersten Mal in mein Leben eingriff, las ich ein Buch. Ich saß damals im Garten, obwohl es erst Ende März war, immerhin ein laues Märzende. Ich hörte wirres, einförmiges Geschrei. Ich wußte, daß es eine Art Aufruhr in der Stadt gab, daß die Leute unzufrieden waren wegen des Paktes, den Jugoslawien mit Deutschland geschlossen hatte, aber ich war zu wenig politisch und national interessiert, um deswegen auf die Straße zu laufen und ganauer zuzuhören. Ich las weiter. Und dabei ging mich der Inhalt jenes Geschreis sehr viel an. Man schrie: „Lieber Krieg als Vertrag“ und „Lieber Grab als Sklav'“. Ich war mit diesen Behauptungen gar nicht einverstanden, aber da ich mich ihnen nicht widersetzte, nicht einmal dort hinging, wo sie ausgesprochen wurden, geschah es mir nach Ansicht engagierterer Menschen nur recht, daß ich trotz meines Unwillens in einen Krieg verwickelt wurde, der nur wenige Tage danach mit dem Bombardement Belgrads begann.

Woher kam mein Beiseitestehen in dem allgemeinen Radikalismus, der nach Kampf und Opfer schrie? Schon mein Vater, obwohl aus den Gebirgen um Knin stammend, wo die wildesten Krieger auf die Welt kommen und wo auch dieser Krieg seinen Anfang nahm, war ein Friedensmensch; er wurde als hochbegabter Schüler aus seinem Dorf in ein orthodoxes Priesterseminar geschickt, zog es aber vor, nach vier Jahren die Schule aufzugeben, um sich zu einem Kaufmann umzuschulen, der später eine Kaufmannstochter heiratet, die nicht einmal eine Serbin ist, so daß sein Sohn, das heißt also ich, ein Mischling sein wird.

Solche Menschen, die, wie mein Vater und meine Mutter, eine Mischehe schließen und führen, gibt es heute auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawiens eine runde Million, und da ich selber schon Enkel habe, geht die Mischung weiter in die nächsten Generationen, so daß ungefähr acht oder neun Millionen Menschen in diesem Lande gemischten Blutes sind. Das ist mehr als ein Drittel der Bevölkerung. Die anderen zwei Drittel gehören allerdings den „reinen“ Serben oder „reinen“ Kroaten oder Montenegrinern oder Slowenen oder Mazedoniern oder Moslems (die auch als Nation anerkannt werden), aber mindestens die Hälfte von ihnen ist tolerant im nationalen Sinne, wie das auch anderswo in der Welt der Fall ist. Also ist höchstens ein Drittel der Bevölkerung national interessiert und militant. Dieses Drittel kämpft gegen die gleichgültige, tolerante Mehrheit.

In diesem zahlenmäßigen Unverhältnis liegt der Grund, weswegen der Krieg in Jugoslawien so gestaltlos, so gezwungen ist, so ähnlich wie eine Kneipenrauferei, wo die betrunkenen Streithähne sich nicht ganz im klaren darüber sind, worum sie zanken und mit wem sie zanken. Es wird viel geschossen, große Gefechte werden registriert, und am Ende wird berichtet, daß es dabei keine Gefallenen und nur einige Verletzte gab. Zur selben Zeit überfallen Halbzivilisten ein Dorf und massakrieren Hunderte von Kindern, Frauen und Greise. Weitere Hunderte werden verschleppt und in Keller gesperrt, wo sie außerhalb jeder legalen Kontrolle unter schrecklichen Qualen zugrunde gehen. Pathologische, aus den Kerkern freigelassene und als Söldner angeworbene Kriminelle kühlen ihr Mütchen an der bedauernswerten, hilflosen und unbewaffneten Bevölkerung, sie schneiden Menschen Ohren und Nasen ab, reißen ihnen die Augen heraus, vergewaltigen, verwunden, foltern, schlachten nach Lust und Laune. Die regulären Truppen sind durch Banden verstärkt, die für sie den schmutzigen Teil der Arbeit verrichten, und es ist kein Geheimnis, daß die Befehlshaber ihren Anteil an der Beute bekommen. Dieser Krieg in Jugoslawien ist kein ethnischer mehr, sondern längst ein Banditenkrieg, wobei die Hauptbanditen die bestehenden ethnischen Spannungen nur als Vorwand benützen, um ihre Macht, die durch den Sturz des Kommunismus gefährdet war, weiter zu erhalten.

Habe ich nach dem hier Gesagten überhaupt das Recht zu der Behauptung, daß es um den gleichen Krieg geht, der für mich im März 1941 angefangen hat? Ich jedenfalls fühle mich durch diesen Krieg in der gleichen Weise einem Element ausgesetzt, das über mich hereinrollt und mich mit seinen blutigen Wellen ersticken will. Ich muß dabei gestehen, daß dieses Element sich damals, im März 1941, dem Hitlerschen Drang nach Osten widersetzte und dadurch die Kampagne der deutschen Wehrmacht gegen Rußland um einige entscheidende Wochen verschoben hat. Vielleicht habe auch ich, wie viele Hunderttausende, durch diese fehlenden Wochen den Krieg überlebt, vielleicht habe ich dank dieser durch Opfer und Blut erworbenen Wochen die Gelegenheit bekommen, meine Romane und Erzählungen, auf die ich so viel halte, zu schreiben und so viele interessante Romane und Erzählungen (auch über jenen Krieg) zu lesen.

Doch dieser Gewinn hat die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung Jugoslawiens zu viel gekostet. Aus dem Krieg mit Deutschland wurden Niederlage und Zerfall, aus der Niederlage und dem Zerfall quoll, wie eine faule Frucht, der unabhängige Staat Kroatien, dessen Gründer sich als erstes Ziel die Ausrottung der Serben setzten; aus dieser Ausrottung wurde der Partisanenkrieg, und der Partisanenkrieg führte zum Sieg des Kommunismus, der dann, in seinem Zerfall 1989, in nationalistische Abrechnungen mündete.

Der Balkan bleibt, so scheint es, ein Gefangener seiner Geschichte. Offenbar würden in den umliegenden Ländern viele, die es ebenfalls nach Eroberung gelüstet, gerne mitmachen. Aber sie seien gewarnt: Schon vor achtzig Jahren haben Schüsse in Sarajevo eine allgemeine Katastrophe ausgelöst. Ich meinerseits möchte auch jetzt, statt sie mitzuerleben, über die Geschichte lieber lesen.

8. August 1992