Unverändert: das Format

■ Künstlerpostkarten im Postmuseum Frankfurt

IGOT UP AT 8.15 A.M. Die Lettern des Satzes sind gestempelt. Ebenso wie das Datum und der Absender: APR 2 1977, On Kawara, 77 Wooster St., New York, N.Y. 10012 USA.

Seit 1968 schickt der japanische Künstler On Kawara täglich zwei Ansichtskarten von seinem jeweiligen Aufenthaltsort. Die Vorderseite zieren die üblichen Motive. In New York das Empire State Building. In London die Houses of Parlament. Und auf hoher See der Ozeandampfer. I GOT UP AT 6.02 A.M., heißt es da, JUN 8 1977, On Kawara, Queen Elizabeth II, North Atlantic.

Bekannt ist Kawara durch seine Date-Paintings: monochrome Bildtafeln unterschiedlicher Größe, die allein ein Datum als Bildinformation tragen. Seine Postkarten sind ein Beispiel dafür, wie die Konzeptkunst sich auch in der kleinen Form fortsetzt.

So ist es bei fast allen Künstlerpostkarten: Sie sind miniaturisierte Kunstwerke, die den individuellen Stil oder die Techniken der Zeit spiegel. Oder beides.

„Die Künstlerpostkarte“ heißt eine Ausstellung im Frankfurter Postmuseum. Wer da vermutet, hier wolle sich das Unternehmen selbst auf die Schulter klopfen, liegt falsch. Es ist nicht das erste Mal, daß das Postmuseum eine hervorragende Kunstausstellung (mit-)organisiert, die von der Qualität der Exponate lebt.

Bei dieser leuchtet der Veranstaltungsort unmittelbar ein: Ohne die „neue Art der Correspondenz“ via Postkarte wäre diese Kunst erst gar nicht entstanden. 1870 war es, als so die neue Ära der Massenkommunikation ins Leben gerufen wurde. Und es dauerte nicht lange, bis die Bildpostkarte folgte. Weniger Raum für Mitteilungen, Verknappung der Korrespondenz, Lust auf Sichtbares: der Beginn der visuellen Kommunikation. Kein Wunder, daß die Künstler sich schnell dieses Mediums annahmen.

Die Geschichte der Künstlerpostkarte beginnt 1880. Am 11. Juni schickt der junge Maler Philipp Franck einen Gruß aus Kronberg im Taunas an seine Schwester in Frankfurt. Der Text ist lediglich noch die Legende zur aquarellierten Federzeichnung, die ein katholisches Kinderbegräbnis zeigt.

Den Kern der Ausstellung bildet die Sammlung epxressionistischer Karten des Altonaer Museums in Hamburg, das zusammen mit dem Postmuseum verantwortlich zeichnet.

Die expressionistischen Karten der Brücke-Künstler Schmidt-Rottluff, Heckel, Kirchner einerseits, die Dada-Karten eines George Grosz oder Kurt Schwitters andererseits — dessen Merz-Gesamtkunstwerk sich ebenso wie seine Kunst- und Kultfigur Anna Blume auf den Karten wiederfindet: Sie zeigen die zwei grundsätzlichen Techniken, die die Künstlerpostkarte charakterisieren.

Gehen die Maler der Brücke- Gruppe von der Blankovorlage der gedruckten Postkarte aus, die sie wie ein leeres Skizzenblatt nutzen, so sind die Dadaisten die ersten, die eine gedruckte Bildpostkarte bearbeiten: Sie bemalen, übermalen, collagieren, zerschneiden.

Erst später kreieren die Künstler völlig neue Objekte, die sich dann auch in Material und Gestaltung von der Vorlage unterscheiden. Die postalischen Mitteilungen eines Joseph Beuys sind als massive Holzblöcke präsent, und — fast möchte man sagen: natürlich — es gibt sie auch als Filz-Karte.

Oder der Video-Künstler Nam Jun Paik: Er verwendet eine durchsichtige Plexiglasplatte, die für die Botschaft lediglich noch die Rückseite der Briefmarken bereithält.

Eines aber bleibt in der über hundertjährigen Geschichte der Künstlerpostkarte unverändert: das Format. Die festgesetzte Bildgröße ist Herausforderung und Freiraum zugleich. Herausforderung, weil der reduzierte Raum zur Konzentration zwingt. Freiraum, weil der Einfall sich in der schnell hingeworfenen Skizze und der zumeist nicht auf kommerzielle Verwertung zielenden Arbeit unvoreingenommen formulieren läßt.

Eine Abteilung demonstriert den ungebrochenen Reiz, den die Postkarte auf die Künstler ausübt: Christo, Jenny Holzer, Cy Twombly, Salomé, Stefan Balkenhol, Sol LeWitt — und andere. Der Minimal-Künstler Carl André faßt die Faszination in einem Satz zusammen: „Ich begann erst in den sechziger Jahren, Postkarten zu schreiben, weil all meine Briefe immer aufgerissen ankamen“, steht auf seiner Karte. „Für mich ist Post verschicken und bekommen — genau wie die Kunst — eine Art erotisches Spiel.“ Jörg Rheinländer

Die Ausstellung „Die Künstlerpostkarte“ ist bis zum 10. September im Frankfurter Postmuseum zu sehen. Der Katalog kostet dort 45 Mark.