: Nach drei Tagen Krieg: „Sirnak ist ausgelöscht“
Die kurdische Stadt wurde von türkischen Militärs zerstört/ Die Einwohner sind fast alle geflohen/ Augenzeugen berichten über das Vorgehen der Soldaten und klagen den Staat an/ Zahlreiche Spekulationen über die Hintergründe ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren
Im Staatskrankenhaus von Sirnak wies der Vater der zweijährigen Ayse Artunc auf das amputierte Bein seiner Tochter: „Sie ist also die Terroristin, die den Staat bekämpft.“ Das Dorf der Familie, das nur wenige Kilometer von der kurdischen Stadt entfernt liegt, wurde unter den Bomben des türkischen Militärs zerstört. Doch auch im Zentrum von Sirnak, dessen Häuser und Einwohner vor einer Woche den blindwütigen Geschossen der Militärs zum Opfer fielen, will keine Ruhe einkehren. In der Nacht von Sonntag auf Montag hörte man zuerst das Rattern der Maschinengewehre. Dann spuckten Mörser und Raketenwerfer ihre Todesbotschaften aus.
„Als ob es nicht reichte, daß sie uns drei Tage lang angegriffen haben. Es ging wieder los. Unser Viertel Yeni Mahalle haben sie dem Erdboden gleichgemacht. Sie haben unsere Häuser bombardiert“, sagt Salih Ürek, der in die nächstgelegene Stadt Cizre flüchtete. Seine achtjährige Tochter Sevim liegt mit Schrapnell- Verwundungen im Krankenhaus. Das kurdische Sirnak, erst vor wenigen Jahren zur „Provinzhauptstadt der Türkischen Republik“ erhoben, ist von der Landkarte getilgt. Truppenverbände eben jener Türkischen Republik haben das Geschäft erledigt.
Der 76jährige Kurde Mehmet Karacan warf sich weinend vor den Abgeordneten Mahmut Alinak, der zusammen mit weiteren sieben Abgeordneten der „Arbeitspartei des Volkes“ Sirnak besuchte: „Wir haben keinen Platz, wo wir hingehen können. Sie wollen uns vernichten. Wir flüchten vor dem Staat“.
Bereits am Montag setzte der Massenexodus aus Sirnak ein. Auf den Ladeflächen von Lastkraftwagen, auf Eseln und zu Fuß setzte sich ein großer Flüchtlingstreck in Richtung Cizre in Bewegung. Sirnak gehört nicht mehr seinen kurdischen Einwohnern. In der Stadt sind fast nur nur noch Militär, Polizei und Beamte verblieben. Von den rund 20.000 Einwohnern sind etwa 15.000 geflüchtet.
„Regierung des Generalstabs“
Erschüttert berichtete der Abgeordnete Mahmut Alinak über seine Eindrücke im total zerstörten Sirnak. „Wir fordern von den Vereinten Nationen Asyl für das massakrierte kurdische Volk. Wir rufen die Weltöffentlichkeit auf, Sirnak zu sehen. Dort ist ein zweites Halabja ins Werk gesetzt worden. Der Generalstab hat Sirnak ausgelöscht. Diese Regierung ist eine Regierung des Generalstabes.“ Alinak forderte nach dem Schreckensszenario und dem Massenexodus in Sirnak eine außerordentliche Sitzung des türkischen Parlamentes.
Nach Angaben der Abgeordneten — die bislang zuverlässigsten Zahlen über die Opfer unter der Bevölkerung — sind seit vergangenen Mittwoch 28 Menschen ums Leben gekommen. Der dreckige Krieg tobt weiter. Vor drei Tagen zeigte der türkische Privatsender Interstar einen Mann, der vor der Leiche seiner Schwester im Krankenhaus von Sirnak klagte: „Der Staat hat das gemacht“. Angaben der Istanbuler Zeitung Özgür Gündem zufolge wurde der Mann anschließend von Zivilpolizisten festgenommen. Tags darauf wurde seine Leiche in Sirnak auf offener Straße gefunden.
Die Kette der zynischen Erklärungen seitens der herrschenden Politiker nach nach der Barbarei in Sirnak will nicht abreißen. „Es kann keinen Zweifel geben, daß von Häusern Feuer auf die Sicherheitskräfte eröffnet wurde. Der Staat eröffnet doch nicht grundlos Feuer auf jemanden,“ sagte der türkische Ministerpräsident Süleyman Demirel auf einer Pressekonferenz in Ankara. „Gott danke unseren Sicherheitskräften,“ betete der Ausnahmerechtsgouverneur in den kurdischen Provinzen, Ünal Erkan. Und Verteidigungsminister Nevzat Ayaz gab die dummdreiste Lüge von sich, daß die Sicherheitskräfte besonders vorsichtig vorgegangen seien, um „die unschuldigen Bürger zu schonen“.
Mittlerweile ist offenkundig, daß ein großangelegter Angriff der PKK auf Sirnak — so die regierungsamtliche Version — nicht stattgefunden hat. Der türkische Innenminister Ismet Sezgin hatte vergangenen Mittwoch von 1.000 bis 1.500 „Terroristen“, die Sirnak „überfallen“ hätten, geredet. Doch bis heute konnten die amtlichen Stellen keinen einzigen Partisanen der „Arbeiterpartei Kurdistans“, „Terroristen“ wie es im Amtstürkisch heißt, der Öffentlichkeit präsentieren. Auch von den schweren Waffen, mit denen Sirnak in Schutt und Asche gelegt wurde fehlt jede Spur. Kein Wunder. Denn die Raketenwerfer, Mörser und Panzer des türkischen Militärs waren es, die die Stadt vollständig zerstörten.
Selbst der Sirnaker Stadtrat Sahin Kadirhan, Parteigenosse von Premier Demirel, dessen Haus ebenfalls zerstört wurde, konnte es mit eigenen Augen sehen: „Es war selbst am hellichten Tag. Sie haben die Panzer neben dem Atatürk-Denkmal aufgestellt und auf uns geschossen. Ich schwöre, daß ich keinen einzigen Guerillakämpfer gesehen habe.“
Nach Angaben des Gouverneurs von Sirnak, Mustafa Malay sind 443 Personen inhaftiert worden. Davon seien 139 des „Terrorismus“ verdächtig. Zumeist handelt es sich um Jugendliche aus Sirnak, die allein wegen ihres Alters des „Terrorismus“ verdächtig sind.
Ein Desaster für den Staat
Unklarheit herrscht nach wie vor über den Hintergründe des weitgehend ziellosen Militäreinsatzes. Die Stimmung unter den Militärs in Sirnak ist so angespannt, die Furcht vor der PKK so groß, daß bereits ein Gewehrschuß die Kettenreaktion in Gang setzen konnte. Das ist noch die wahrscheinlichste Erklärung der Ereignisse. Sirnak gilt in den Augen der Militärs als „Terroristennest“. Die Bevölkerung verhehlt nicht ihre Sympathie für den Kampf der PKK. „Sirnak gehört ausradiert“, wird ein Militärkommandant in Özgür Gündem zitiert.
PKK-Führer Abdullah Öcalan hat eine andere Erklärung bereit. Der türkische Staatspräsident Turgut Özal, politischer Gegner des Ministerpräsidenten Süleyman Demirel, habe das Massaker in Sirnak inszenieren lassen, um der Regierung zu schaden. „Mit großer Wahrscheinlichkeit ist dieses Massaker unter der Initiative von Özal verwirklicht worden. Er will die Regierung in Schwierigkeiten bringen. Wenn man die türkische Presse verfolgt, wird man sehen, daß die Regierung unvorbereitet den Ereignissen ausgetzt war.“ Im Gegensatz zu Demirel, der im Rahmen der konservativen Nationalstaatsdoktrin die Kurdenfrage zu „lösen“ verspricht, fordert der wendige Özal eine komplette Neuorientierung der staatlichen Kurdenpolitik. Selbst die Diskussion um eine föderativen Staat mit den Kurden will der Staatspräsident eröffnen. Nicht wenige glauben daran, daß er klammheimlich die kurdischen Gebiete im Nordirak — in Zusammenarbeit mit den gemäßigten Kurdenführern im Irak — unter die Hegemonie der Türkei bringen will. Sirnak könnte somit dem Zweck gedient haben, die Botschaft zu verkünden, daß die klassische Kurdenpolitik des türkischen Staates am Ende ist.
Ein Desaster für den türkischen Staat sind die Ereignisse in Sirnak allemal. Die ansonsten staatstreue Tageszeitung Hürriyet veröffentlichte gestern auf der ersten Seite Zitate des Ministerpräsidenten Süleyman Demirel zur Kurdenfrage. „Alles dummes Geschwätz“ war die Schlagzeile zu den Zitaten des Premiers. Fotos von Flüchtlingen aus Sirnak umrandeten die Botschaft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen