"Man muß die Führer isolieren"

■ Der 80 Jahre alte Essayist ist entsetzt und empört über die rassistischen Krawalle vor der Zentralen Aufnahmestelle für Flüchtlinge in Rostock/ Genauso entsetzlich findet er den Beifall der Gaffer auf den...

„Man muß die Führer isolieren“ Der 80 Jahre alte Essayist ist entsetzt und empört über die rassistischen Krawalle vor der Zentralen Aufnahmestelle für Flüchtlinge in Rostock/ Genauso entsetzlich findet er den Beifall der Gaffer auf den Straßen/ Die Gewalttäter „müssen ziemlich hart erzogen werden“

taz: Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Bilder aus Rostock sehen?

Lew Kopelew: Ich bin entsetzt und empört! Entsetzt und empört sowohl über das, was dort geschah, als auch über — und vielleicht noch mehr — über das Verhalten der Behörden.

Warum?

Polizei und Feuerwehr waren ohnmächtig. Wobei noch fraglich ist, ob es sich dabei um eine natürliche oder um eine wohlorganisierte Ohnmacht handelt.

Glauben Sie, die Behörden hanen absichtlich nicht schnell reagiert?

Es ist alles möglich, ich weiß es eben nicht genau. Aber die Ohnmacht ist Tatsache. Man zweifelt und man kann noch diskutieren über die Gründe dieser Ohnmacht: Ist es, wie gestern auch ein Fernsehreporter sagte, Dummheit der Behörden oder Ohnmacht. Ich sage: Es ist einfach Unfähigkeit — was man aber nur schwerlich vermuten kann, weil Polizei und Feuerwehr eigentlich immer sehr wohlorganisierte Kräfte sind.

Was sollte man mit den Jugendlichen und den Erwachsenen machen, die Ausländer so sehr hassen, daß sie diese sogar umbringen wollen?

Diese Jugendlichen muß man erziehen.

Wie denn?

Ziemlich hart vielleicht. Man muß sie für eine Zeit isolieren von der Gesellschaft. In Erziehungsanstalten, und von ihren Führern muß man sie vor allem isolieren.

Von ihren „Führern“?

Ja, von ihren Führern. Man muß ihnen schlicht die Möglichkeit nehmen, eine neue SA oder eine neue SS aufzubauen. Diese Jugendlichen kann man nicht durch Schläge oder durch Gasbomben oder durch gewöhnliche Gerichtsurteile über Nacht anders denken lassen. Es muß eine gezielte Erziehungsarbeit geführt werden von sowohl wissenschaftlich als auch moralisch vorbereiteten Lehrkräften. Die Gewalttäter müssen eben von den Führern isoliert werden. Die Führer gehören, ich weiß nicht, ausgewiesen aus diesem Land. Und die, die schon Verbrechen begangen haben, die Menschen verletzt haben, in Gefängnisse.

Aber das ist ja in Rostock schon schlimmer als in Hoyerswerda! Ich muß sagen: Der Beifall der Menschen auf der Straße ist noch entsetzlicher. Das ist ja eine internationale Seuche: in Frankreich das Le-Pen- Publikum, in Österreich Haider, der bei uns bereits salonfähig geworden ist. Das sind für mich auch schlimme Symptome.

Wenn Sie nach Rostock führen: Was würden Sie den Flüchtlingen dort sagen?

Ich würde ihnen sagen, daß es nicht die Deutschen sind, die auf sie schießen. Daß es die Hooligans sind, die Rowdies, der Abschaum der Rostocker und Hamburger.

Aber Rostocker und Hamburger sind doch Deutsche.

Aber das ist der Abschaum der Bevölkerung dieser Städte. Ich war doch im Kriege und bin deshalb im Frieden dagegen, daß man Verbrechen, Missetaten, Dummheiten und Gemeinheiten einzelner Menschen oder einzelner Gruppen oder einzelner Parteien als nationale Sünden, als nationale Verbrechen beschreibt. Nationen bestehen Jahrhunderte, Jahrtausende, aber Parteien und solche gefährlichen Rotzjungen wie die in Hoyerswerda und in Rostock, die sind ja für Jahre oder für ein Jahrzehnt schlimmstenfalls so wie heute.

Verstehen Sie, warum Jugendliche versuchen, einen Ausländer schwer zu verletzen oder gar umzubringen?

Das ist möglich, weil der angesteckt ist von den Bazillen dieser schrecklichen, internationalen, über die Grenzen greifenden Seuche des Völkerhasses. Und weil diejenigen, die ihn belehren könnten und sollten, ohnmächtig bleiben oder gleichgültig oder sogar mit einem gewissen Verständnis das alles betrachten. Man kann die Ursachen verfolgen, warum ein 15jähriger oder auch eine 40jährige Dame empört sind, weil die da kampierenden Sinti und Roma keine Klos hatten und in den Garten gehen mußten. Ich kann diesen Jungen und diese Dame verstehen, aber ich kann nicht die Herren vom Stadtrat und von der Polizei und von den Parteien verstehen, die dort in der Stadt sind, die den Asylanten nicht helfen, eine menschliche Unterkunft zu finden, und dann nicht die Bevölkerung darüber aufklärt: Wie es dazu kam, woher diese Menschen kommen — und warum sie gekommen sind.

Sollten der Bundespräsident und der Bundeskanzler nach Rostock fahren und sich mit den Flüchtlingen solidarisch erklären?

Ich weiß nicht, ob man unbedingt dazu hinfahren muß. Aber sie müssen sich selbstverständlich dazu äußern! Interview: Thorsten Schmitz