Tapferer Schneider-betr.: "Trittbrettfahrer der Trauer" (Rolf Schneiders Essay über den Untergang der DDR), taz vom 21.8.92

Betr.: „Trittbrettfahrer der Trauer“ (Rolf Schneiders Essay über den Untergang der DDR),

taz vom 21.8.92

Der Rezensent bewertet den Untergang der DDR und die Befindlichkeit des Volks im Beitrittsgebiet anders als der Autor des von ihm abqualifizierten Buchs; die Auseinandersetzung führt er mit ihm nicht. Er wirft Rolf Schneider die fehlende Nähe zum Volk und dessen Gefühlen vor — das ist ein bewährtes Mittel der Denunziation von kritischen Intellektuellen in verschiedenen Phasen der deutschen Geschichte gewesen (und es erstaunt, dergleichen heute in der taz lesen zu müssen). Von Unkenntnis und politisch präformierter Polemik geprägt ist auch der Exkurs des Rezensenten zu Herbert Marcuse, der 1964 unter dem Stichwort des „Schreckens der geschichtlichen Periode“ ausdrücklich auf die „Gleichzeitigkeit des Bürgerkriegs in Spanien und die Prozesse in Moskau“ verwies und folgerte: „Die totalitäre Gesellschaft nimmt das Reich der Freiheit jenseits des Reichs der Notwendigkeit in ihre Verwaltung und formt es nach ihrem Bilde.“ Durchaus in zutreffendem Verständnis des Kontextes von Marcuses Begriff der „repressiven Toleranz“, gegen die der in Kalifornien lebende Philosoph „das Denken im Widerspruch“ aufbot, das „dem Bestehenden gegenüber negativer und utopischer werden“ müsse, präsentiert Rolf Schneider unbequeme Einsichten. Unter den Schneiders, welche die zerschnittene Kulturlandschaft Berlins zusammenzunähen sich anschicken, scheint mir Rolf der tapferste. Frieder Reininghaus, Köln