„Schämt euch“

■ Die internationale Presse beobachtet Neonazismus/ Ausländische SpitzenpolitikerInnen schweigen

Woher kommt es, daß ein so sicheres, demokratisches und wirtschaftlich erfolgreiches Land wie Deutschland rassistische Gewalttaten erlebt? Die Frage beschäftigte gestern ausländische BeobachterInnen. Ihre Antworten reichen von sozioökonomischen Analysen der Situation in den neuen Ländern über Vergleiche mit der „Reichskristallnacht“ bis hin zu Verweisen auf das angebliche Überhandnehmen der Immigration. In London schimpfte die Times zwar, „jeder Deutsche sollte sich schämen“, doch gleich im nächsten Absatz zeigte das konservative Flaggschiff auch schon wieder Verständnis: „Das Land hat ganz klar die Grenzen seiner Toleranz erreicht.“ Der Independent wies darauf hin, daß es „eine Sache sei, es mit ein paar Chaoten aufzunehmen“, und eine andere, „sich mit einer Gesellschaft auseinanderzusetzen, die sich auf deren Seite gestellt hat“. Der Guardian entdeckte „Anzeichen von Bürgerkrieg in den Rostocker Unruhen“. Ihr Korrespondent meint, gewalttätige Demonstrationen dieser Art könnten sich bald auch auf den Westen des Landes ausbreiten. Als Anzeichen dafür wertet er die europaweite Unzufriedenheit mit der etablierten Politik, den Drift hin zu rechtsradikalen Parteien und das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft. In Ostdeutschland käme erschwerend hinzu, daß Intellektuelle und die Elite der jüngeren Generation nach Westen abgewandert seien.

In Frankreich standen gestern die internationalen Auswirkungen im Mittelpunkt. So veröffentlichte Le Monde die Karikatur eines Jean- Marie Le Pen im Nahkampfdreß, der hocherfreut die Deutschlandnachrichten liest. „Maastricht ist gar nicht mehr nötig, um Europa herzustellen“, sagt der Chef der rechtsradikalen „Front National“, der gerade Kampagne gegen die Europäische Union macht.

Das Zentralorgan der französischen KommunistInnen, L'Humanité, zeigte Verständnis für die rechtsradikalen Gewalttaten. Die Zeitung beschrieb die Unruhen als „eine Folge der Umstände der von Westen aufgezwungenen Annexion nach Husarenart“. Das „Halseisen, das Maastricht so verschiedenen Völkern wie den Griechen, Franzosen, Spaniern oder Engländern aufzwingen will“, werde sich „am Ende kaum von dem unterscheiden, das nach der Wiedervereinigung angelegt wurde“.

In Israel schrieb die Jerusalem Post, es sei jetzt klar, daß der „Neonazismus seit der Wiedervereinigung mit großen Sprüngen vorangekommen“ sei. Es liege an Deutschland, „alle Anstrengungen zu machen, den falschen Patriotismus und die gemeine Gewalt der Nazis zu bremsen“.

In Brüssel forderten grüne PolitikerInnen, daß sich das Europaparlament mit der „Explosion der Gewalt und den neonazistischen Ausschreitungen in Rostock“ befasse. Ein Vertreter der sozialistischen Fraktion schloß sich der Forderung an.

SpitzenpolitikerInnen hingegen halten sich weiterhin bedeckt. Kaum jemand wagt sich mit einer Reaktion an die Öffentlichkeit — nicht einmal Fran¿cois Mitterrand, der sich vor einigen Monaten, als Los Angeles brannte, sofort zu Wort meldete. Die Straßenkämpfe jenseits des Atlantiks hatte der französische Präsident mit der „verfehlten Sozialpolitik der amerikanischen Regierung“ erklärt. Urteil und Analyse über die rassistischen Gewalttaten im Nachbarland scheinen ihm schwerer zu fallen. Dorothea Hahn