Sehnsucht im Grauen

■ Die Peruaner Integro bei Movimientos 92 / Umsetzung gesellschaftlicher Zustände in Tanz glückte nur teilweise

bei Movimientos '92/Umsetzung gesellschaftlicher Zustände in Tanz glückte nur teilweise

Eine Frau steht dicht an der ersten Reihe, nur ihr Gesicht ist beleuchtet, und dieses verwandelt sich nur durch atemberaubende Verzerrungen unter einer dicken Schicht Puder von jung in alt, von leblos in entsetzt. In Liebestöter gekleidete Tänzer strampeln wie halbtot getretene Insekten auf dem Boden. Attacken und Umarmungen der Dreckverschmierten zaubern eine gewalttätige Poesie.

Extreme Seelenzustände in einer extremen Zeit, das ist das Thema der peruanischen Tanztheater- Gruppe Integro, die mit ihrem Stück Und wenn nach so vielen Worten am Mittwoch beim Sommertheater Premiere hatten. Die Gruppe, die aus einem Land stammt, in dem gewöhnliche menschliche Sicherheiten außer Kraft sind, war die erste Compagnie, die sich mit einer direkten Umsetzung der aktuellen gesellschaftlichen Zustände in Lateinamerika beschäftigte. Und der Eintritt in ihre expressive Darstellung einer inhumanen Welt gelang mit einem Paukenschlag.

Zittern und Zucken, Schutz- und Trostsuche, Panik, Flucht, Grauen und stummes Entsetzen in Wolken aus Staub transportierten anfänglich eine bedrückende Atmosphäre, die dennoch Hoffnung und Widerstand ausdrückte. Denn die entfesselt getanzten Momente, die im Verlauf des Stückes oft in sexuelle Gestik übergingen, ließen kraftvolle Bilder entstehen, die den Zustand eines Lebens in Angst und Unterdrückung, das dennoch dieselben Sehnsüchte kennt wie ein Leben in Freiheit, spürbar machten.

Drei Tänzerinnen und ein Tänzer verbildlichten in mehreren kompakt getanzten Szenen Gedichte des peruanischen Dichters Cesar Vallejo. Aus den ersten Momenten der Bedrohung entwickelte sich die Szenenfolge hin zu einer pathetischen Verbeugung vor dem Dichter, der schlußendlich als monumentales Porträt auf dem Bühnenvorhang erschien. Im Verlauf dieser Entwicklung verwandelte sich aber leider auch die entfachte Begeisterung in Zurückhaltung, denn nach knapp Zweidrittel übernahmen elegische und schwülstige Momente die Kontrolle und führten zu einem unnötigen Bruch.

Kampf und Selbstbeherrschung wurden ersetzt durch relativ beliebige Figuren, die nichts mehr von der anfänglichen Dynamik und Schärfe besaßen. Ebenso veränderte sich die Musik. Dramatische Gesangssequenzen und unheimliche Arrangements mit Flöte oder Streichern wurden jetzt abgelöst durch sanftmütige Walzerklänge auf Drumcomputer-Rhythmen.

Dennoch war der hier gezeigte Ansatz einer der wenigen wirklich vielversprechenden Ausblicke auf die Möglichkeit einer eigenen lateinamerikanischen Formensprache. Till Briegleb

Noch heute, 20 Uhr, Halle 4