Langes Leben in einer kranken Stadt

■ Gesundheitssenator Ortwin Runde legt mit seiner "Stadtdiagnose" einen umfassenden Krankheitsbericht Hamburgs vor

einen umfassenden Krankheitsbericht Hamburgs vor

Die Vorbereitungen für eine neue Politik in Hamburg laufen auf Hochtouren. Nach dem Versprechen, künftig Armutsberichte zu verfassen, und einer Verbesserung des Luftmeßsystems hat sich jetzt auch die Gesundheitsbehörde zu den Gipfeln hanseatischer Politik emporgeschwungen: messen, aufschreiben, berichten. Krankensenator Ortwin Runde gestern glücklich: „Es erfüllt einen schon ein Stück mit Stolz, als erstes Land in der Bundesrepublik und 100 Jahre nach der Cholera-Epidemie eine solche Stadtdiagnose vorlegen zu können.“

Die Ziele des dreieinhalb hundert Seiten schweren Paperbacks sind bescheiden. Es soll, im Dreijahresrhythmus fortgeschrieben, den „Diskurs mit Betroffenen und Fachleuten“ befördern. Ja, so Ortwin Runde, „der Bericht ist Grundvoraussetzung, um endlich die Gesundheit in den Mittelpunkt unserer Politik zu stellen“.

An wohllöblichen Absichtserklärungen ist in dem städtischen Krankheitsbericht kein Mangel. Man will ganzheitlich, integriert, vernetzt, zusammenschaumäßig, zielgruppenbewußt und, klaro, unglaublich diskurshaft das kranke Hamburg wieder hochpäppeln. Vorsorge statt Krankheitsbewältigung und der „gesunde Lebensraum Stadt“ heißen die Leitziele, die das Herz jedes Reformpolitikers höher schlagen lassen. Wer allerdings hofft, in dem Bericht eine echte Diagnose Hamburger Krankheiten und Krankheitsmacher zu finden, eine genaue Analyse, der notwendige Maßnahmen zugeordnet sind, wird bitter enttäuscht. Die Diagnose entpuppt sich als umfangreiches Nachschlagewerk, in dem eine Unzahl von Daten beschreibend nebeneinander gestellt werden: Hamburger leben länger als vor 100 Jahren, in armen Stadtteilen stirbt sich's früher, die Ozongrenzwerte werden an 80 Tagen überschritten, Akademikerkinder sind besser „durchimpft“, in Hamburg Mitte gibt es 68 Apotheken und und und ... Ursache, Wirkung und politischer Handlungsbedarf werden nur in den seltensten Fällen formuliert. Runde entschuldigend: „So weit sind wir noch nicht.“

Einzige Ausnahme bildet der Jugendbereich. Hier traut sich die Behörde nach einem ersten Hearing an konkrete Ziele heran. So soll die Säuglingssterblichkeit bis zum Jahr 2000 von 4,3 auf 3,0 pro Hundert gesenkt, die Stillzeit der MÜtter verlängert, die Nichtraucherquote der 14- bis 24jährigen erhöht und schließlich auch noch der sexuelle Mißbrauch von Kindern eingedämmt werden. Ziele, die im Dialog mit Experten entwickelt wurden.

Über weite Strecken aber liest sich die Stadtdiagnose als Diagnose der Sozialbehörde, die zwar fraglos guten Willens ist, der es aber in geradezu erschreckender Weise an Analysen und Handlungsprogrammen mangelt.

Übrigens: Natürlich heißt das Werk offiziell „Gesundheitsbericht“. Unser Vorschlag: Man sollte den nächsten Armutsbericht der Klarheit halber auch lieber „Wohlstandsbericht“ taufen. Florian Marten