Überleben in der Masse

Der neue Roman von Don DeLillo  ■ Von Annette Jander

Spätestens seit seinem Roman „The Names“ von 1982 zählt Don DeLillo zu den bemerkenswertesten Autoren in den USA. Sein Thema: die Massengesellschaft und das Individuum. Auch der Titel seines neuen Buches „Mao II“ ist in diesem Sinne zu verstehen. Warhols Vervielfältigungen des Porträts von Mao Tse Tung, der wiederum 500 Millionen Menschen nach seinem Vorbild formte, bezeichnet das Paradox der amerikanischen Konsumgesellschaft, in der jeder einzigartig sein will und doch in der Masse Schutz sucht.

Im Mittelpunkt von „Mao II“ steht einer, der mit nichts mehr etwas zu tun haben will. Dem Schriftsteller Thomas Pynchon nachempfunden, der wie DeLillo Ironie als Kommentarform bevorzugt und die eigene Biographie dafür ganz aus seinen Werken verbannt, hat sich DeLillos Protagonist, der Romancier Bill Gray, völlig von der Außenwelt abgenabelt und lebt mit seinen Freunden Karen und Scott irgendwo, ein paar Autostunden von New York. Eine Fotografin überbringt eine Nachricht von Bills früherem Verleger. Dieser ist nicht nur auf Bills neues Buch scharf, sondern will ihn auch zu einer politischen Aktion bewegen. Im immer noch bürgerkriegsgeschüttelten Beirut ist ein junger französischer Dichter entführt worden, der, offensichtlich auf Bitten der publicitysüchtigen Entführer, nach einem spektakulären Auftritt von Bill Gray freigelassen werden soll. Bill läßt sich Schritt für Schritt auf die Sache ein. Nach Stationen in London und Athen fährt er schließlich sogar auf eigene Faust in den Libanon.

Bevor die Geschichte richtig anfängt, ist sie jedoch schon wieder zu Ende. DeLillo hat kein modernes Abenteuer geschrieben, er beschreibt Zustände und Verwirrungen. Die Figuren sind zwar selten orientierungslos, nur scheint sie ihre Orientierung nirgendwo hinzuführen. Bill Gray, der seinen Roman aus ungenannten Gründen nicht vollenden will und der Amerika den Rücken gewandt hat, engagiert sich für den gefangenen Franzosen und verliert am Ende auf sinnlose Weise sein Leben. Karen sucht Schutz vor der Gesellschaft in der Sekte, vor der sie später selbst geschützt werden muß.

Der eigentlichen Romanhandlung in „Mao II“ vorangestellt ist die bizarre Szenerie der Massenhochzeit der Mun-Sekte im New Yorker Yankeestadion. Im genormten Brautkleid ehelicht Karen den Koreaner Kim, den sie seit zwei Tagen kennt. Im gleichen Maß, wie sich Karen mit Mun identifiziert, verschmilzt Bill später mit dem Franzosen. Der Drang nach Identifikation, vermischt mit Neugier, ist bei beiden Motivation ihrer Handlungen. Weltpolitische Ereignisse holen uns permanent ein, während wir die Realität um uns herum kaum mehr wahrnehmen.

„Bill versteht nicht, wieso Leute es nötig haben, sich zu vermischen, sich in etwas Größeres zu verlieren. Bei der Massenhochzeit geht es darum, zu zeigen, daß wir als Gemeinschaft überleben müssen und nicht als Individuen, die jede komplizierte Gewalt zu beherrschen versuchen. Gemischtrassige Massenhochzeit. Die Umwandlung der Weißhäutigen durch die Dunklen. Jede revolutionäre Idee birgt Gefahr und Umsturz in sich. Die Nachteile des Mun- Systems sind mir alle bekannt, aber in der Theorie ist es mutig und visionär. Denken Sie an die Zukunft, und wie deprimiert sind Sie dann. Nichts als schlechte Nachrichten. Wir können nicht überleben, wenn wir immer mehr brauchen, immer mehr haben wollen, niemals nachgeben, alles einstreichen, was zu kriegen ist“, sagt Scott.

Dies ist eine der wenigen Stellen, die die Warnung des Autors offen durchscheinen läßt, daß sich die Gesellschaft in der Sackgasse befindet, wenn sich Bürger in verstärktem Maß von ihr abwenden und sich eine Nische bei Rand- und dennoch Massenphänomenen wie der Mun-Sekte suchen, die gar als „revolutionäre Idee“ fasziniert.

Als DeLillo 1988 „Libra“ („Sieben Sekunden“) veröffentlichte, eine fiktive, aber akribisch recherchierte Biographie des Kennedy-Attentäters Lee Harvey Oswald, ebenfalls ein Opfer des Massenwahns, wurde er vor allem vom rechten Flügel der Kolumnisten angegriffen. George F. Will von der Washington Post bezeichnete ihn sogar als „schlechten Staatsbürger“.

Am deutlichsten tritt DeLillos ironisch-kritischer Blick auf seine Landsleute jedoch in seinem Roman „Weißes Rauschen“ zutage, der 1987 in sehr gelungener Übersetzung ebenfalls bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Im Mittelpunkt steht Jack Gladney, Mittfünfziger und Begründer des Lehrstuhls für Hitler-Forschung an einem kleinen College im Mittleren Westen Amerikas. Jack lebt mit seiner vierten Frau Babette und diversen altklugen Kindern aus verschiedenen Ehen in einem kleinen, durchschnittlichen Städtchen, über dem eines Tages nach einem Bahnunglück eine giftige Wolke schwebt, die Jack kontaminiert. Ein ernstes und aktuelles Thema, das DeLillo mit allen Schrecken einer Evakuierung und der Hilflosigkeit des einzelnen porträtiert.

In selbstverständlicher Bereitwilligkeit, sich jeglichem Massenphänomen anzupassen, entwickeln die Gladney-Töchter nacheinander Krankheitssymptome, die sie dem Radio entnehmen. Auf Erbrechen folgen Déjà-vu-Erlebnisse sowie „,Krämpfe, Koma, Fehlgeburt‘, sagt die wohlinformierte und muntere Stimme im Radio“.

Wahrhaftig und grotesk schildert DeLillo die heranrückende „dräuende“ Giftwolke, aber auch die tägliche Unterhaltung beim Abendessen, denn „die Familie ist ein steter Hort der Desinformation“.

Ernste Themen werden von DeLillo ernst genommen. DeLillo verarbeitet seine Alpträume so, daß man seine eigenen Ängste zwar immer noch als solche akzeptiert, aber auch über sie lachen kann. Humor kommt in „Mao II“ allerdings weniger zum tragen als in „Weißes Rauschen“. DeLillo ist kein Moralist, obwohl seine Werke sich mit der Ethik der modernen Menschen, die sich in einer entmoralisierten Welt zurechtfinden müssen, befassen. Oft können die eigenen Wertvorstellungen nur durch beharrliches Ignorieren der Realität aufrechterhalten werden.

In „Weißes Rauschen“ arrangieren sich die Einwohner des kleinen Städtchens mit den Männern in Schutzanzügen, die noch nach Monaten die Gift- und Strahlenbelastung messen, die Kinder nehmen geflissentlich an simulierten Evakuierungen teil, während sie den Ernstfall bereits hinter sich haben. In „Mao II“ stellt sich Scott darauf ein, daß Bill verschwunden bleibt, und beginnt damit, dessen letztes Manuskript zu ordnen.

DeLillo zeigt uns Symptome der Krankheit einer Gesellschaft, die sich zwanghaft überfüttert. Nun ist das nicht gerade neu, aber kaum einem anderen Autor gelingt es, durch ausgezeichnete innere Monologe seinen Figuren so viel Leben einzuhauchen und jedes seiner Bücher zum Genuß zu machen, ohne den Blick von den Problemen abzulenken.

Don DeLillo: „Weißes Rauschen“. Aus dem Amerikanischen von Helga Pfetsch. Kiepenheuer & Witsch, 1987, 420 S., 39,80 DM

„Sieben Sekunden“. Aus dem Amerikanischen von Han Hermann. Kiepenheuer & Witsch, 1991, 576 S., 45 DM

„Mao II“. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz, Kiepenheuer & Witsch, 1992, 320 S., 45 DM