Japans mächtigster Mann tritt zurück

Shin Kanemaru, die graue Eminenz der Regierungspartei LDP, wurde der Annahme von Bestechungsgeldern in Millionenhöhe überführt/ Japanische Öffentlichkeit ist fassungslos  ■ Aus Tokio Georg Blume

„Als einer der weiß, was in der Politik läuft, ist meine Entscheidung nur natürlich.“ Shin Kanemaru, bis gestern noch der mächtigste Mann in Japan, gab seinen Rücktritt nicht selbst bekannt. Ein Berater las Kanemarus Erklärung. Stumm wie immer saß der Mann, den die Japaner bisher als ihren Deng Xiaoping verehrten, vor den Kameras einer ungläubigen Nation. Kanemaru, 78 Jahre alt, hob die Augen nicht, beantwortete noch die verdutzten Fragen der Journalisten und ging. Seitdem ist Japan führungslos.

Der Skandal stellt alles in den Schatten

Zwei große Regierungskrisen und zwei große Skandale hat das Land seit Kriegsende durchlebt. Doch das gestrige Geständnis des bisherigen Vizepräsidenten und Fraktionsvorsitzenden der Regierungspartei stellt alle zuvor aufgedeckten Sünden japanischer Politiker in den Schatten: Shin Kanemaru gab zu, im Januar 1990 500 Millionen Yen von der Bestechungsfirma Sagawa Kyubin angenommen und dem Steueramt verschwiegen zu haben. Die Summe, umgerechnet 5,7 Millionen Mark, ist das bislang größte in Japan aufgedeckte Bestechungsgeld. Das Geld wurde von Sagawa Kyubin, einer der drei großen Paketdienste des Landes, bar in Koffern in Kanemarus Büro geschleppt. „Als das Geld einmal da war“, meinte Kanemaru, „wollte ich, daß es der Partei zugute kommt.“

Eine Rechtfertigung seines Verhaltens versuchte Nippons meistgeachteter Politiker nicht. Aber er lieferte auch kein Schuldbekenntnis. Statt dessen warf er sich vor, was ihm zuvor noch nie unterlaufen war: nämlich einen „Mangel an Diskretion“.

Tatsächlich hat Kanemaru sein Leben lang aus dem Hinterhalt der Kulissen regiert. Die New York Times nannte ihn deswegen den „Paten der japanischen Politik“. Kanemaru weigerte sich stets, das offiziell höchste Amt im Staat selbst zu bekleiden.

Der Mann im Hintergrund

Ganz im Sinne der alten chinesischen Staatsphilosophie, die nur im unsichtbaren Herrscher einen guten erkennt, verzichtete Kanemaru auf den Glanz der Macht, um als Vorsitzender der mächtigsten Parteifraktion alle konkreten Entscheidungen der Regierungspolitik bis hin zur Wahl des Premierministers an sich zu reißen. Dabei hatte er schon als Lokalpolitiker in den sechziger Jahren gelernt, Millionenspenden der Privatindustrie für die eigene Partei einzutreiben. Solches Koordinierungsgeschick begründete seinen Ruhm. Dabei haftete bis gestern nicht der geringste Makel an Kanemarus persönlicher Integrität. Nun aber wird sich die Galionsfigur der liberaldemokratischen Regierungspartei (LDP) aller Voraussicht einer Anklage der Staatsanwaltschaft stellen müssen. Denn erst die Ermittlungen der Gesetzeshüter hatten in den letzten Tagen den Verdacht gegen Shin Kanemaru in die Öffentlichkeit gebracht.

Schon im Januar begannen die Untersuchungen der Staatsanwaltschaft in der Sagawa-Kyubin-Affäre, bei der es um Unterschlagungen in Höhe von 6,7 Milliarden Mark und Bestechungsgelder für Hunderte von Politikern geht. Kanemarus Rücktritt stellt also voraussichtlich erst den Beginn der politischen Krise dar. Dutzende von Parteikollegen könnten seiner Abbitte Folge leisten. Die Regierung von Premierminister Kiichi Miyazawa aber hat mit Kanemaru bereits heute ihre wichtigste Figur verloren. Noch gestern Nachmittag forderte Miyazawa den Fraktionsvorsitzenden eindringlich auf, seinen Rücktritt wieder zurückzunehmen. Doch erfolglos. Nur Außenminister Michio Watanabe wollte gestern seine Ruhe nicht verlieren: „Kanemaru“, so Watanabe, „werde weiterhin großen Einfluß auf die politischen Geschäfte nehmen.“ Wer wollte ihm da widersprechen?

Regierungskrise steht bevor

Tatsächlich kann der Abgang des Kulissenkönigs zu jenem Generationswechsel in der Regierungspartei führen, den Kanemaru immer gewünscht hatte. Als Fraktionsvorsitzender dürfte nun Kanemarus Schützling Ichiro Ozawa (50) die Nachfolge erben. Ozawa, ein Politiker neuen aggressiven Stils, hätte damit die erforderliche Ausgangsposition, um Miyazawa als Premierminister zu folgen. Unter Ozawa, der sich offen für ein größeres militärisches Engagement Japans in der Weltpolitik einsetzt, könnte die Nation ihr größtes politisches Revirement seit Kriegsende nehmen.

Doch es kann auch ganz anders kommen. Schon gestern reagierten die japanischen Oppositionsparteien in heller Empörung auf die Enthüllungen Kanemarus. Sie forderten die Einberufung einer außerordentlichen Parlamentssitzung, um weitere Politiker, die im Verdacht der Bestechlichkeit stehen, vor einem Untersuchungsausschuß anzuhören. Könnten die Oppositionsparteien nun geschlossen gegen die Regierung vorgehen, wäre ihnen die Unterstützung der Öffentlichkeit gewiß. Politische Reformen zur Verbesserung des Wahlsystems und Entflechtung der Parteifinanzierung, die nach dem vergangenen Recruit-Cosmos-Skandal im Jahr 1989 in den Schubladen der Ministerien zurückgehalten wurden, hätten wieder eine Chance.

Es gibt niemanden, der sauber ist

Allerdings sind auch die Oppositionsparteien in der Sagawa-Affäre nicht ganz frei in ihrer Reaktion. Angeblich bis zu 280 Parlamentsabgeordnete sollen von den Geldern der dubiosen Paketfirma profitiert haben, darunter natürlich auch eine große Anzahl von Oppositionspolitikern. „Niemand mit Namen“, schrieb eine große Tokioter Tageszeitung, „ist nicht dabeigewesen. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft können diesmal ein politisches Erdbeben auslösen.“

Der Sagawa-Skandal um seine neue Schlüsselfigur Kanemaru wird in der japanischen Politik neue Maßstäbe setzen. Bereits 1974 zwang der Lockheed-Skandal, in dem es um die unrechtmäßige Vergabe japanischer Aufträge an den amerikanischen Flugzeughersteller ging, Premierminister Kakuei Tanaka zum Rücktritt. Fünfzehn Jahre später, im Mai 1989, mußte Premierminister Noboru Takeshita seinen Hut nehmen, weil er über die Firma Recruit-Cosmos von Insidergeschäften an der Börse profitiert hatte. Doch noch niemals wurde der führende Regierungspolitiker Japans der direkten Annahme von Bestechungsgeldern überführt. Juristisch mag dies letztlich nicht zu Konsequenzen führen. Doch Kanemaru hat sein Urteil gestern selbst gesprochen. Nun ist der König nackt.