: "Endlich ist hier mal was los"
■ Die rationale Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum das geschieht, was in diesen Tagen in Lichtenhagen geschieht, fällt schwer. Hier leben Professoren, Werftarbeiter, Lehrer und Ingenieure...
„Endlich ist hier mal was los“ Die rationale Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum das geschieht, was in diesen Tagen in Lichtenhagen geschieht, fällt schwer. Hier leben Professoren, Werftarbeiter, Lehrer und Ingenieure. Die Arbeitslosigkeit ist nicht höher als anderswo in Ostdeutschland auch. Die Hälfte der 20.000 Bewohner der Trabantenstadt sind Jugendliche. Für sie ist Lichtenhagen der langweiligste Stadtteil Rostocks. Sogar die beiden Jugendclubs aus DDR-Zeiten sind geschlossen worden. Jetzt machen die Jugendlichen, wie einer von ihnen sagt, „selber das Programm“.
Nur die ausgebrannte Karosse eines Trabant deutet am Morgen des sechsten Bürgerkriegstages darauf hin, daß etwas vorgefallen sein muß in Rostock- Lichtenhagen. Die Feuerwehrleute haben das Autoskelett in einer Parkbucht am Straßenrand deponiert; da steht es nun und stinkt. Passanten, die an dem Wrack vorbeilaufen müssen, beschleunigen meist ihre Gangart, wenn der verkohlte Wagen in Sicht kommt. Man wünscht, er wäre schon weg. Man wünscht in Lichtenhagen noch immer nicht, er hätte nie gebrannt.
Als dieses Fahrzeug zwölf Stunden zuvor angezündet wurde, brach unter den 1.000 Zuschauerinnen und Zuschauern plötzlich eine gespenstische Ruhe aus. Das Feuer knisterte und puffte, und als der Tank explodierte, schoß eine orangefarbene Feuerschlange in die Luft. Ein Faszinosum. Der Trabant war zur Hälfte ausgebrannt, als sich eine Mutter ihrem halbwüchsigen Sohn näherte. „Muß das denn sein?“ flüsterte sie. Der vielleicht 16jährige sah sich erst peinlich berührt um, ob jemand den vorwurfsvollen Satz gehört haben könnte. Dann zischelte er: „Halt die Schnauze, Mutti. Geh nach oben.“
Die Eltern in Lichtenhagen haben zur Zeit nicht viel zu sagen. „Mein Alter ist arbeitslos“, erzählt der 15jährige Andi, „der hängt den ganzen Tag in der Bude rum.“ Mutti guckt „Glücksrad“. Andi macht Randale. Rechtsradikal sei er irgendwie schon, sagt er und wartet gespannt, ob der Reporter nun schockiert ist. Als keine entsetzte Reaktion folgt, meint er: „Endlich ist hier mal was los. Sonst gibt es hier doch nichts.“ Lichtenhagen hat Jugendlichen nichts zu bieten. „Zu DDR-Zeiten gab es Jugendclubs, die sind zu“, meint Andi und fügt hinzu: „Wir machen jetzt selber Programm hier.“ Seit das Fernsehen jeden Abend die Krawalle filmt und live aus dem langweiligsten Stadtteil Rostocks berichtet, sitzen Andi und seine Kumpels in der ersten Reihe.
Die Ansammlung von achtstöckigen Plattenbauten, die sich Lichtenhagen nennt, ist eine sozialistische Kopfgeburt. Im Jahre 1974 — die Republik feierte ihren 25. Geburtstag — wurde hier der erste Bau von Werftarbeiterfamilien bezogen. Die Reißbrettkommunisten, die den Stadtteil am grünen Tisch entwarfen, dachten sich die Sache so: In Lichtenhagen soll man essen, schlafen und Fernsehen gucken können. Die Möglichkeit, daß die Bewohner sich auch tagsüber in den Plattenbauten aufhalten müßten, zogen die Planer nicht in Betracht. Schließlich hatte jeder Arbeit im Sozialismus. 1975 glaubte man, das würde ewig so bleiben.
Heute leben in Lichtenhagen fast 20.000 Menschen. Etwa die Hälfte von ihnen ist unter 25 Jahre alt.
Wenn Erstkläßler früher ihren ersten Schultag in Lichtenhagen feierten, hatten die Lehrer viel zu tun. Es gab 15 Jahre lang nicht nur eine erste Klasse, sondern mindestens acht. Heute reichen zwei oder drei, schuld ist nicht der Pillen- sondern der Wendeknick.
Lichtenhagen bietet seinen BewohnerInnen heute zwei Supermärkte, ein Reisebüro, ein Fischgeschäft, einen Friseur, zwei Imbißbuden, einen Kiosk und ein paar Boutiquen. Früher gab es auch zwei Jugendclubs. Einer wurde sofort abgewickelt, der andere geschlossen, weil der Leiter mit der Kasse durchbrannte. „Uns ist klar, das wir da was Neues machen müssen!“ erklärt der Ortsamtsleiter Dieter Roxin. Aber was und womit? In diesem Jahr wird das Finanzloch der Kommune Rostock über 20 Millionen Mark betragen. Etwa 13 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos; rechnet man die Kurzarbeiter, Umschüler und ABM- Beschäftigten hinzu, ist die Quote etwa doppelt so hoch. In Lichtenhagen, so schätzt Roxin, sähe das nicht anders aus. Überdurchschnittlich hoch sei die Arbeitslosigkeit im Neubauviertel aber nicht. Lichtenhagen ist kein Sozialwohnungsviertel; „hier leben alle, vom Arbeiter bis zum Professor“.
Lichtenhagen wurde wie alle Plattenbaukomplexe der DDR nicht gebaut, weil es Menschen gab, die Wohnungen brauchten. Der Stadtteil entstand, weil es Fabriken und Büros gab, in denen Menschen arbeiten sollten: die brauchten eine Unterkunft. Mehr nicht. 1960 wurde in Rostock der Überseehafen eröffnet; der größte Umschlagplatz für Seegüter in der DDR. Die Führungsrolle verlor Rostock nach der Wende; Werften wurden entweder abgewickelt oder kämpfen ums Überleben.
Die rationale Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum das geschieht, was in diesen Tagen in Lichtenhagen geschieht, fällt schwer. Während Politiker Statements abgaben und Fernsehreporter auf der Suche nach O-Tönen waren, um die These von der vernachlässigten, orientierungslosen Jugend mit Bildern zu belegen, verließen gestern morgen über 40 Asylbewerber aus Angst vor Überfällen die Stadt. Zwei Jahre haben sie in Rostock verbracht; nun fürchten sie um ihr Leben. „Wir haben sie gehen lassen, weil es für sie darum geht, ihre Haut zu retten“, sagte ein Mitarbeiter des Arbeiter-Samariter-Bundes. Die Hilfsorganisation betreibt ein Asylbewerberheim am Rande der Stadt. Die Flüchtlinge flohen vor Professoren, Werftarbeitern, Lehrern und Ingenieuren, die am Wochenende Beifall klatschten, als Steine flogen. Immer weniger wollen nun dabeigewesen sein. „Ich habe unter der Stasi weniger gelitten als unter den Kellnern, Klempnern und Taxifahrern“, schreibt die DDR-Schriftstellerin Monika Maron im neuen Spiegel. Diese Kellner, Klempner und Taxifahrer haben ein Zuhause. Es heißt Lichtenhagen. Lichtenhagen aber ist überall. Claus Christian Malzahn,
Rostock
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen