Die alten Helden sind müde

■ Die Sommerkonzerte-Saison neigt sich dem Ende zu/ Guns N'Roses, Genesis, Westernhagen, Love Parade, Karibische Träume: Als Alternative bleibt nur ein Kreuzberger Open-air-Küken

In anderen Städten gehört der allsamstägliche Volksmarsch ins Stadion zur Gewohnheit, den Berlinern ist die Pilgerschaft im Geiste des Sports leider verwehrt. Sie müssen mit Rock 'n' Roll vorliebnehmen. Schon am 26. Mai war es soweit: Schwäbische Reisebusse blockierten den Ku'damm, Teenager mit Voralpendialekt stürmten planlos in die U-Bahnen, Guns N'Roses waren in der Stadt. Von diesen hiesigen Hard- Rock-Sektierern wohlweislich ignoriert, brachten sich die rechten Metaller aus Kalifornien ihre Fans zum größten Teil aus den alten Bundesländern mit. In den fünf neuen mußte man sich bei Freiluftpreisen von bis zu 60 Mark das Eintrittsgeld für seine wirklichen Lieblinge aufsparen, und die meisten hatten in Sachen Schmusekönig nur einen im Sinn. Der vom Alter schon schwer zerknautschte Phill Collins brach mit den ihn begleitenden Kunsthandwerkern der Gruppe Genesis alle Besucherrekorde quer durch Europa, das dem britischen Popkapitalisten grenzenlos zu Füßen lag. In Berlin lief das Grillfest mit weichgespültem Musikbeiwerk noch recht glimpflich ab, wenn man bedenkt, daß die Autobahnen und Zufahrtsstraßen zum Müngersdorfer Stadion in Köln beim dortigen Konzert von Collins und Co. über zweieinhalb Stunden vollkommen zugestaut waren.

Doch dieser festive Größenwahn ist natürlich nicht die Regel. Zumeist genügt dem Besucherstrom der Aufmarsch von etwa 13.000 Gleichgesinnten, um sich so richtig freiluftmäßig pudelwohl zu fühlen. In dieser Saison hatte die Waldbühne Hochkonjunktur. Gleich an mehreren Abenden wollte sich der Berliner Mittelstand die augenzwinkernden Lästereien des früheren APO-Sympathisanten Marius Müller — heute schlicht und einfach corporate identifizierbaren — Westernhagen nicht entgehen lassen. Von Max und Männer-Vogue zum Trend erhoben, brauchte der vormals über sich selbst singende »dünne Hering« in diesem Jahr den Vergleich mit Frank Sinatra nicht zu scheuen. Zumindest hat er Peter Maffay den Rang in der Publikumsgunst abgelaufen, dem nur an einem Abend die Fans folgten.

Manche Sterne verlöschen leider unter freiem Himmel. Als Elton John die Waldbühne mit einem Troß schmerbäuchiger Studiomusiker betrat, brannte die Luft nicht mehr rosa wie bei seinen glamourösen Eskapaden der siebziger Jahre, sondern roch ganz einfach nach Rostbratwurst. Die alten Helden werden in der frischen Luft eben schneller müde. Da hilft auch kein Bier, das die örtliche Imbißmafia allerdings in immer mäßigeren Maßen ausschenkt. Als hätte der Fleischer den Daumen auf der Waage, füllt sich der Plastikbecher meist nur dürftig mit dem fast vier Mark teuren Hefegesöff, was den durchschnittlichen Konzertbesucher aber wenig stört. Er steht eben einmal mehr Schlange, beim Pinkeln, beim Bierstand, am Ausgang, an der Bushaltestelle, auf dem U-Bahn- Steig... Wer nun denkt, nur des kleinen Bürgers Freizeitwünsche würden im generalstabsmäßig verplanten Popspektakel vorgeführt, muß sich auch diesen Zahn ziehen lassen. Die Alternativen sehen nicht viel anders aus. Als in der gewitterschwangeren Juliluft die Love Parade mit Techno-Gedonner auf dem ehemaligen Militärstützpunkt der NVA in Johannisthal eingedröhnt wurde, hat sich auch der vergnügungsfreudige Underground vorführen lassen. Was den Besuchern am Eingang per Leibesvisitation an Drogenmitbringseln abgeknöpft worden war, wurde ihnen auf dem zum psychedelischen Jahrmarkt umgestalteten Gelände wiederverkauft. Techno goes Altamont— wie bei den Rolling Stones. Auch die karibischen Nächte am Tempodrom haben ein wenig unter der Geschäftstüchtigkeit der Ökohändler gelitten. Das Rund vor dem als Arche gestylten Auditorium war in erster Linie ein Sammelsurium von Pumphosen- und Plunderverkäufern. Manchmal hat man sie trotzdem ob der Spielfreude der afrokaribischen Bands gar nicht bemerkt.

Als echte Alternative zur Alternative bleibt da am Ende nur ein Open- air-Küken übrig, das von den Musikern aus dem Kreuzberger Kneipenleben organisiert worden ist: »Die eigene Gesellschaft« hat sich erst diesen Donnerstag das Freiluftkino in der Wuhlheide auserkoren, um mit einem lockeren und bunten Programm Bandaktivitäten zu kreuzen. Heute dagegen will sich auf dem Bizarre-Festival die zweite Liga die Gunst eines wachsenden Independant-Publikums erspielen. Die Sommersonne wirft selbst auf eingefleischte Nachtschwärmer ihre Schatten, könnte man meinen. Harald Fricke