Versuch einer Ekstase mit einer ominösen Zahl

■ Die Gruppe »Moving M3« zeigt ihre neuste Performance »Bann« auf dem Gelände der St. Elisabethkirchenruine in Berlin Mitte

Schon in der Bibel erhält die Zahl 6 eine besondere Deutung: Dreimal hintereinander geschrieben bezeichnet sie in der Apokalypse des Johannes den Antichristen. Den Künstlern von Moving M3 gibt die Zahl in Zusammenhang mit ihrer neuen Performance ebenfalls einige Rätsel auf. So stellten sie fest, daß der Giebelspruch der einst von Schinkel entworfenen Kirche aus 6 Worten besteht, daß alle Akteurinnen einen Vornamen mit 6 Buchstaben haben, die Kirche 6 Jahre vor Schinkels Tod eingeweiht wurde, ihre Premiere einhundert6zig Jahre nach dem Baubeginn der Kirche und außerdem in einem Monat mit 6 Buchstaben stattfindet — wer suchet, der findet noch mehr.

Aber vielleicht hätte sich so manch einer der früheren Kirchenfürsten angesichts dieser Veranstaltung tatsächlich vom Teufel bedroht gefühlt. Wo damals noch die sündigen Schäflein auf harten Bänken um Buße und Reinigung ersuchten, inmitten der strengkonzipierten, lustfeindlichen klassizistischen Mauern, sprießt und piekst heute die gemeine Brennessel und anderes Getier. Vier Frauen (Nieves Casquete, Uli Ertl, Carola Finke und Astrid Völker) in grellorangen Overalls schlängeln, wühlen, klettern und winden sich wie besessen im verbliebenen Geröll und Mauerwerk.

Ihre Katharsis ist eine andere: Durch ständiges Wiederholen von ein und demselben Bewegungsablauf versuchen sie, in Ekstase zu geraten. Um diesen Zustand zu erreichen, setzen sich die vier mit dem auseinander, was der Ort zu bieten hat, und lassen sich vor allem von seiner Atmosphäre in Bann ziehen. Die herumliegenden Steine zum Beispiel sind mal Objekt, werden bestiegen, gesammelt und befördert. Dann wieder scheinen sie den aktiven Part zu übernehmen: sie bilden eine Mauer um eine Darstellerin und lassen sie so für eine Weile selbst versteinern.

»Bann« heißt der Werktitel dieser Produktion von Moving M3, der in sich schon den Widerspruch zwischen aktivem Handeln und passivem Mit-sich-Geschehenlassen vereinigt — auf der einen Seite beinhaltet er die (religiöse) Ausgrenzung, auf der anderen das grenzenlose Verzaubertsein. Durch das Erleben beider Extreme an sich selbst, von außen gefördert durch archaische Trommelklänge und die Urgewalt Feuer, erlangen die Künstlerinnen schließlich den erwünschten Höhepunkt: erschöpft und verausgabt beenden sie den Abend.

Der Zuschauer auch. Jedoch weniger aus einer Verzauberung heraus, sondern vielmehr hart geprüft durch ständiges Hecheln zu den wechselnden Aktionspunkten. Wie ein aufgeschrecktes Rudel Hasen rannte man von einem Lichtkegel zum nächsten, um nur ja keine Szene zu verpassen. Ein fester Standort für das Publikum war nicht auszumachen: was für manch eine theatrale Darbietung das entscheidende Tüpfelchen sein kann, wirkt hier nur störend. Der Gesamteindruck geht so verloren, zu sehr ist man mit praktischen Problemen beschäftigt — Sicht, Ort und Zeitpunkt. Ob diese Performance auch den Zuschauer in Bann zu ziehen vermag oder nicht, das war am Abend der Premiere jedenfalls nicht festzumachen. Im dichten Gedränge hat der Zauber gegen das Gefühl von Ausgegrenztsein verloren, und nur die Brennessel vermochte für sinnliche Erfahrungen der besonderen Art zu sorgen. Anja Poschen

Weitere Aufführungen: heute und morgen, 2.-6.9., jeweils 20 Uhr, in der St. Elisabeth Kirche zwischen Invalidenstraße und Elisabeth- Kirch-Straße in Berlin Mitte.