LEISTUNSNACHWEIS UND EXOTIK

■ Wandern mit Günther aus Gomera

Wandern mit Günther auf Gomera

VONKARLW.BIEHUSEN

Vierzehn Jahre lang hat Clemente, wie viele seiner Landsleute, im fernen Venezuela geschuftet, bis er zu Hause in Teneriffa seinen Lebenstraum verwirklichen konnte: ein Häuschen mit etwas Land, eine Frau, zwei Kinder und ein Geländewagen. Jetzt hat er sogar einen Job gefunden, im Parador „Cruz de Tejada“. Seinen Kindern, so hofft er, bleibt die Auswanderung erspart — dem Tourismus sei Dank.

Was die Reisegruppe aus Deutschland hier sucht, das ist Clemente freilich nie richtig klar geworden: Eine schier unendliche Wüste dehnt sich ringsumher. Sicher, der Nationalpark „Las Canadas del Teide“ hat seine Reize. Bizarre Felsformationen und eine seltsame, fragile Fauna lassen die Herzen von Kennern höher schlagen. Doch die einzige auffällige Sensation bildet der Vulkan Teide, mit 3.716 Meter der höchste Berg Spaniens; und anders als die Heerscharen seiner Landsleute vom fernen Festland meiden die Deutschen diesen Höhepunkt, verschmähen die Seilbahn und stiefeln auf den rund tausend Meter kleineren Berg Guaraja.

Auf dessen kahlem Gipfel stehend, habe ich mich mit Clemente gewundert. Stundenlange Kraxelei lag hinter uns und vor uns — und von oben brannte erbarmungslos die Sonne. Was mag meine Landsleute bewogen haben, sich im Rudel über staubige Pfade und heiße Klippen scheuchen zu lassen? „Wenn meine Wanderfreunde von Nepal schwärmen, will ich wenigstens die Kanaren bieten können“: Leistungsnachweise und Exotik im Urlaub. Dafür nimmt der Manager aus München sogar in Kauf, von allen Benno genannt zu werden. Duzen ist noch immer Pflicht unter zünftigen Marschierern: „Ich heiße Günther“, stellte der Wanderführer am ersten Tage klar.

Wir sind sportlich und wandern bergauf

Weiße Haare, ein fester Tritt, Kompetenz und Kondition — so stelle ich mir in der Tat einen Führer vor. Eine staatliche Lizenz belegt seine Qualifikation. Wer sie in der Tasche hat, darf auf die Genehmigung zum Wandern auch auf Wegen hoffen, die „Schwarzarbeitern“ und unlizensierten Individualisten offiziell versperrt bleiben. Kondition erwartet Günther auch von seinem zahlenden Gefolge: „Die Spezialunternehmen schicken ihre Kunden bergab, wir sind sportlich und wandern bergauf“ — nicht nur auf Teneriffa, wo außer kahlen Bergen auch die traumhafte Masca-Schlucht im Programm steht.

Derart auf Günthers Stil eingestellt, jagen wir in einem Tragflächenboot nach La Gomera. Uns locken die immergrünen Bergwälder jener Insel, die lange eine Art Geheimtip unter Aussteigern war. In den kommenden Tagen erleben wir sie selber, die Urwälder, die auf dem Eiland im Atlantik überlebt haben. Selbst im Sommer treibt in seinem Inneren der Passatwind Nebelschwaden durch Schluchten und Täler, wo Lorbeerbäume einen dichten Wald bilden. Bei einer Fünf-Stunden-Tour durch diesen „Bosque del Cedro“ verschlägt es uns den Atem: Moos hängt in Fahnen von den Stämmen herab, und wenn die Sonne sich einmal den Weg zum Boden bahnen kann, dann schimmern zwischen grünen Farnen leuchtende Blüten auf.

Märchenhafte 3.948 Hektar weit erstreckt sich so der Nationalpark von Garajonay (benannt nach dem mit 1.486 Meter höchsten Berg der Insel), den die UNESCO 1985 in die Liste einmaliger Natur- und Kulturgüter der Menschheit aufnahm. Ein Jahr zuvor hatte noch ein Waldbrand auf der Insel getobt, deren Baumbestand seit Jahrhunderten unter Feuer, Äxten und Sägen arg gelitten hat. Selbst ihrem geliebten Picknick dürfen die Gomeros nur noch auf ausgewiesenen Plätzen frönen.

Strenge Schutzregeln lassen den Wandersleuten in dieser geheimnisvollen Wildnis wenig Spielraum. Die Forstbehörde ICONA (Istituto Nacional para la Conservasión de la Naturaleza) achtet auf ihre Einhaltung und pflegt die Wege, die zu begehen überhaupt statthaft ist. Im Norden der Insel, oberhalb von Las Rosas, unterhält sie ein „Centro de Visitantes“, wo Besucher über die Insel, ihre Bewohner und deren Kultur informiert werden.

Richtigen Wandersleuten graust es vor nichts

Wir brauchen keine ICONA, wir haben unseren Günther. Der setzte den steinigen Weg auf den Roque Agando an den Beginn des Gomera- Abenteuers. Nach eineinhalb Stunden Fahrt auf der „Carretera del Sur“ durch die bizarre und trostlose Trockenzone des Insel-Südens hält unser Reisebus im Weiler El Rumabzo. „950 Meter Anstieg liegen vor uns“, verkündet Günther. Beifällig nimmt die Gruppe die Drohung auf.

Anfangs reizen nur wenige exotische Pflanzen zum Fotografieren. Einige Kilometer weiter und einige hundert Meter höher schlängelt sich der Pfad durch eine Macchia von Baumheide und blühender Zistrose, tunnelähnlich wölbt sich schließlich Baumklee über unseren Köpfen. Benchijigua heißt die Häusergruppe, bei der eine Quelle und der Schatten von Mispelbäumen zur Rast lädt. Eine Kapelle steht an diesem „Ort der Fruchtbarkeit“, wie er in der Sprache der Guanchen heißt, jener Ureinwohner der Kanaren, deren Herkunft und Steinzeichnungen den Experten noch immer Rätsel aufgeben. Ihre Versklavung und Ausrottung war den Spaniern eine christliche Pflicht, kaum daß sie im 15. Jahrhundert auf ihren Inseln Fuß gefaßt hatten.

Die Überlebenden haben sich mit ihren Eroberern vermischt und ein mühevolles Leben als Hirten und Bauern geführt. Terrassenäcker zeugen auch auf Gomera von dem Fleiß der Menschen, der sich nie recht lohnte. Seit der „Entdeckung“ Amerikas vor 500 Jahren ließen Auswanderungswellen ganze Dörfer veröden. Heute hoffen die Gomeros auf einen Flughafen, damit das Geld der reichen Reisenden ihre Insel segne. Schäden an der bislang vergleichsweise intakten Sozialstruktur und Landschaft fürchten eher die Zugereisten. Sie haben sich zumeist im bizarren Tal Valle Gran Rey angesiedelt, das in einen der wenigen zum Baden geeigneten Strände mündet.

Wir müssen noch zwei Kilometer klettern, um einen Parkplatz am Fuße der kegelförmigen Agando- Spitze zu erreichen. Hier wartet der Bus für die Rückfahrt zur Inselhauptstadt San Sebastian. Richtige Wandersleute graust es vor nichts, nicht einmal vor stundenlangen Serpentinenfahrten im Bus. Ich pausiere lieber einen Tag lang in dem hübschen Hafenstädtchen und lese im Bordbuch von Christoph Kolumbus die Eintragung vom 06. Sept. 1492: „Am Morgen dieses Tages verließ ich den Hafen von La Gomera und ging unter Segel, um meine Überfahrt zu beginnen.“

Informationen:

Gomera verfügt (noch) über keinen Flugplatz, sondern ist mehrmals täglich mit der Fähre und dem Tragflügelboot von Teneriffa aus erreichbar. Diese Insel wird (beispielsweise mit Condor- und LTU-Charterflugzeugen) angeflogen. Auf Teneriffa ist das Angebot an Unterkünften weitaus größer als auf La Gomera. Dennoch empfiehlt es sich grundsätzlich, das Quartier mit dem Flug zusammen zu buchen: Auf Einzelreisende sind die Kanaren nicht ausreichend vorbereitet. Auch WanderfreundInnen werden Pauschalreisen zu schätzen wissen, weil ihre Wege (zum Glück) weder auf Karten noch in der Wirklichkeit stets ausreichend und zweifelsfrei dargestellt sind. Zu den Anbietern von Wanderreisen unter der Leitung qualifizierter Führer zählt der Stuttgarter Veranstalter Hetzel-Reisen, der sich nicht unbedingt an die ehrgeizigsten TrekkerInnen wendet.

Auskünfte:

Spanisches Fremdenverkehrsamt, Postfach 170547, 6000 Frankfurt/ Main 17