FÜNF JAHRHUNDERTE SPÄTER

■ Spanien gedenkt seiner Geschichte: "Unfähig, die Realität im eigenen Land zu verändern, waren die Regierenden in den letzten zehn Jahren eifrig bemüht, die äußere Erscheinung Spaniens zu verändern"

Spanien gedenkt seiner Geschichte: „Unfähig, die Realität im eigenen

Land zu verändern, waren die Regierenden in den letzten zehn

Jahren eifrig bemüht, die äußere Erscheinung Spaniens zu verändern.“

VONANTONIOMUNOZMOLINA

Ich fürchte, in Spanien machen uns die Gedenkfeiern, Hundertjahrfeiern, Fünfhundertjahrfeiern, Geburts- und Todestage, Entdeckungen, Vertreibungen, Schlachten und Niederlagen langsam, aber sicher, krank. Seit längerem schon kündigte sich die Krankheit mit beunruhigender Hartnäckigkeit an, in diesem Jahr jedoch hat sie ihren kaum mehr zu ertragenden Höhepunkt erreicht: wir feiern oder gedenken Kolumbus' Ankunft auf einigen Karibikinseln, der Vertreibung der Juden, der Niederlage des letzten maurischen Königreichs auf der Halbinsel ..., es jährt sich sogar, wie uns Manuel Vázquez Montalbán hämisch erinnert, der Geburtstag von General Franco zum hundertsten Male, und natürlich wird sich auch jemand finden, der ihn feierlich begeht, wenn auch, bislang, ohne großen Widerhall. Das Paradoxe an diesem wahnsinnigen Fieber nach Gedenkfeiern ist, daß es in einem Land passiert, dem sehr wenig an der Erinnerung seiner eigenen, und zwar auch der jüngsten, Geschichte liegt.

Man könnte sagen, daß das offizielle Gedenken eine Möglichkeit ist, sich der Vergangenheit schnellstens zu entledigen: wenn der Jahrestag zu Ende geht, wenn sich die Organisationskomitees auflösen, die Ausstellungen geschlossen werden und die zahllosen Kataloge und Kongreßakten, die niemand jemals wieder lesen wird, in den Archiven verschwinden, setzt das Vergessen mit der gleichen Perfektion wieder ein, wie die Ruhe nach dem Sturm.

So ungefähr wird es zweifellos auch den Jahresfeiern anläßlich der Eroberung Granadas im Januar 1492 durch die Katholischen Könige ergehen. Mit Unterstützung des Metropolitan Museums aus New York wurde auf der Alhambra eine kurze und bemerkenswerte Ausstellung über das islamische Erbe in Spanien organisiert. Sie wurde in ihrer Bedeutung jedoch in den Schatten gestellt von der so spektakulären und strahlenden Expo in Sevilla, einer Art Disney World, in die man Milliarden von Peseten investiert hat und mit der man uns tagtäglich auf Titelseiten und zu besten Sendezeiten langweilt. Unfähig, die Realität im Land zu verändern, waren die Regierenden in den letzten zehn Jahren eifrig bemüht, die äußere Erscheinung Spaniens zu verändern. Es gab weder Willenskraft noch politische Bereitschaft, ein weniger armes oder weniger ungleiches Land aufzubauen, so daß man sich entschied, ein neues zu erfinden und auf eine Insel zu verlegen, die mit ihrem trügerischen Blendwerk den Inseln gleicht, von denen Don Quichotte träumte.

Die Ausstellung Al Andalus auf der Alhambra hat in mühevoller Kleinarbeit einige Überreste der Kunst und des Alltags der spanischen Muslime zusammengestellt. Aber die geringe Anzahl der Ausstellungsstücke und die ferne Herkunft einiger Exponate sind Beweis genug dafür, wie wenig von jener Welt heil geblieben ist. Natürlich gibt es da immer noch die Alhambra und die Moschee in Córdoba, einige Ruinen von Stadtmauern und ein paar Burgen, die sich kaum von der felsigen Landschaft abheben, in die sie die Mauren bauten, aber es gibt keine lebendige Erinnerung mehr an damals, wohl unter anderem wegen der blinden Wut, mit der die Zerstörung geschah. In den von den Katholischen Königen unterzeichneten Vereinbarungen mit Boabdil, dem letzten Nasriden-König in Granada, wurde das Recht auf die eigene Sprache, die Gebräuche, Religionsfreiheit und sogar der Kleidungsgewohnheiten garantiert. Die Toleranz dauerte nicht lange, und die Vereinbarungen wurden nicht mehr eingehalten, als es für das neue, vereinigte Königreich notwendig wurde, sich hinter ideologischer und religiöser Einheitlichkeit zu verschanzen. Auf dem Bibrrambla- Platz in Granada (der seinen arabischen Namen bewahrt hat, wie so viele Orte in Andalusien und in fast ganz Spanien) brannten gegen Ende des 15. Jahrhunderts Tausende von arabischsprachigen Büchern. Allerdings ist diese Vorliebe für das Feuer nicht ausschließlich der katholischen Intoleranz vorbehalten, auch im islamischen Córdoba des 11. Jahrhunderts brannten heterodoxe Bücher, und auch die maurischen Herrscher griffen häufig zu Dogmatismus und Verfolgung.

Die Moscheen der Stadt wurden in Kirchen verwandelt. Viele von ihnen waren übrigens von Mudejaren gebaut worden, christlichen Handwerkern unter arabischer Herrschaft. Wiederum sieben Jahrhunderte zuvor hatte man die Kirchen in Moscheen verwandelt, so wie viel früher die heidnischen Tempel dem katholischen Kult geweiht worden waren. Granada bewahrte bis Ende des 19. Jahrhunderts praktisch vollständig das arabische Geflecht der Straßen. Heute weist nur noch das Stadtviertel Albaicin deutliche Spuren maurischer Vergangenheit auf. Das Leben und die Kultur der Stadt, wie auch des ganzen Landes, distanzierten sich von der islamischen Vergangenheit und dem jüdischen Erbe, was 117 Jahre nach der Niederlage Boabdils, im Jahre 1609, zu einem Erlaß des Königs Felipe III. führte, der die sogenanten Morisken endgültig vertrieb.

Es ist viel über die wirtschaftlichen Folgen der Vertreibung von Juden und Muslimen diskutiert worden. Die Juden, so heißt es, stellten ein beginnendes Handels- und Geldbürgertum, das, wäre es im Lande geblieben, einen Anschluß an den sich entwickelnden Kapitalismus gewährleistet hätte. Die Morisken, besonders in Andalusien und der Levante, widmeten sich vor allem der intensiven Landwirtschaft, dem Gemüseanbau und der Bewässerung. Aber es gibt nichts Überflüssigeres, als Hypothesen über eine Zukunft aufzustellen, die es nie gegeben hat, nur das eine ist zweifellos sicher, die spanische Kultur hat mit dem Verlust dieser Minderheiten auch das Bewußtsein eines ethnischen und religiösen Pluralismus verloren und ist in einem ideologischen Absolutismus steckengeblieben, unter dem wir noch bis vor kurzem gelitten haben und der noch immer unangenehme Auswirkungen hat.

Die Vergangenheit findet jetzt statt

Für Granada bedeutete die Eroberung den Beginn eines schrecklichen Verfalls, der sich über Jahrhunderte hinzog. Die Chronisten des beginnenden 16. Jahrhunderts berichten von einer Landwirtschaft von geradezu mythologischer Fruchtbarkeit. Das Alpujarra-Gebirge, wo die Mauren die Seidenraupenzucht einführten, wurde nach der Vertreibung praktisch unfruchtbar. Granada, das seiner islamischen Vergangenheit den Rücken kehrte, wurde zu einer unsympathischen Stadt des Klerus und grausamer katholischer Amtsträger.

Aber ich glaube, es ist weder richtig, die Intoleranz für einen Geburtsfehler Spaniens zu halten, noch zu meinen, daß die Vertreibung der Juden und Mauren uns allzusehr von anderen Ländern unterscheidet: es wird gemeinhin vergessen, daß das 16. Jahrhundert eine Geschichte der Verfolgungen und Blutbäder schreibt und daß der Respekt gegenüber dem Anderen, dem Fremden, dem Besiegten, dem Armen eine sehr selten geübte Tugend auf diesem Kontinent ist. Wenn Gedenkfeiern überhaupt zu etwas gut sind, wenn es nicht nutzlos ist, sich heute des Schicksals der Mauren von 1492 oder 1609 zu erinnern, die aus dem Land fliehen mußten, in dem sie geboren wurden, dann vieleicht, um uns klarzumachen, daß jene Vergangenheit genau in diesem Moment stattfindet: während sich in den zivilisiertesten und über jeden Verdacht erhabenen Ländern Europas der Rassismus ausbreitet und in demokratischen Parlamenten Stimmen und Sitze an Individuen gehen, die mit den Arabern oder den Schwarzen dasselbe tun möchten wie die Katholischen Könige gegen Ende des 15. Jahrhunderts mit den Untertanen Boabdils und den spanischen Juden.

Übersetzung: Karin Birkner

Der spanische Autor Munoz Molina lebt in Madrid und Granada. Im Rowohlt-Verlag sind folgende Bände von ihm erschienen:

„Beatus ille oder Tod und Leben eines Dichters“, Roman, 1991, 12,80DM

„Die anderen leben“, Erzählungen, 1991, 28DM

„Der Winter in Lissabon“, Roman, 1919, 38DM