Kann man Haß verbieten?

Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist in den Vereinigten Staaten nahezu absolut. Antidiskriminierungscodes sind rechtlich schwer durchzusetzen und bekämpfen mehr die Symptome als die Ursachen von Gewalt  ■ Von Nan Levinson

Nach Auskunft von Klanwatch, einer Einrichtung des Rechtsberatungszentrums für mittellose Bürger in Alabama, haben Hate- Crimes [für diesen und andere Ausdrücke siehe unser kleines Glossar, d. Red.] in den USA 1991 einen beispiellosen Höhepunkt erreicht. Seitdem der Kongreß 1990 ein Gesetz zur statistischen Registrierung dieser Verbrechen verabschiedet hat, ist deutlich geworden, daß Vorfälle von Hate-Speech und „diskriminatorisch motivierten“ Gewalttaten außerordentlich zugenommen haben. Obwohl beides selten in den Nachrichten auftaucht, wissen Eingeweihte, daß diese Entwicklung seit zehn Jahren existiert.

Natürlich ist dieser schlimme Anfall äußerster Intoleranz weder eine US-amerikanische Erfindung, noch ist es das erste Mal in der Geschichte, daß Bürger der USA derart unzivilisiert miteinander umgehen. Die Aufmerksamkeit, die solche Vorfälle neuerdings auf sich ziehen, hat wohl zum Teil damit zu tun, daß sie auch im Reich der Meinungsmacher selbst mehr und mehr passieren: unter Journalisten, Lehrern, in der Werbung sowie in der Politik.

In den Vereinigten Staaten wird allerdings sowohl die Tatsache selbst als auch die Reaktion darauf besonders schrill und lautstark vorgetragen. Dafür sorgen sowohl die grundgesetzliche, also nahezu absolute Garantie des Rechts auf freie Meinungsäußerung (First Amendment Rights), die Entwicklung an den Colleges und Universitäten des Landes (siehe dazu auch Béatrice Durand: „Bigotterie meinerseits“, taz v. 23.7. 92, Anm. d. Red.) sowie das eifrige Deuten von Trends durch die öffentlichen Medien und, last but not least, die Schwäche der hiesigen Politiker für öffentlichkeitswirksames Getöse.

Neue Gesetze, erhöhte Strafen

Im Laufe der letzten zehn Jahre haben mehrere US-amerikanische Städte und Staaten versucht, diese Flut von Bürgerrechtsverletzungen durch die Bürger selbst mit Hilfe neuer Gesetze, den Hate-Crime- Laws, einzudämmen. Zum überwiegenden Teil wurden nur die Strafen für bereits im Strafgesetzbuch definierte Vergehen erhöht. Einige der neuen Statuten allerdings versuchten sich darin, bestimmte Sprach- und Verhaltensmuster zu kriminalisieren. Eine beispielhafte Diskussion über diese Gesetzesversuche fand im Dezember 1991 statt, als vor dem Supreme Court das Hate-Crime-Gesetz von St.Paul, Minnesota, geprüft wurde. (Am 22.Juni diesen Jahres bezeichnete das Gericht — in der Sache RAV gegen St. Paul — dieses Gesetz einstimmig als Verfassungsbruch: Die Richter begründeten ihr Urteil jedoch nicht einmütig!)

Unbestritten waren in diesem Fall die Tatsachen selbst. Am 21.uni 1990 setzten der damals 17jährige Robert A.Viktora und sein 18jähriger Freund Arthur Miller im Vorgarten von Russ und Laura Jones ein Holzkreuz in Brand, das heißt, sie stellten das Symbol des Ku-Klux- Klan zur Schau, ein brennendes Kreuz. Miller wohnte im Haus gegenüber von den Jones, die als erste schwarze Familie ins Viertel gezogen waren. Während Miller sich eines Vergehens schuldig bekannte, widersetzte sich Viktora der Anklage nach dem Hate-Crime-Gesetz mit der Begründung, das Gesetz sei nicht verfassungskonform. Das Bezirksgericht als erste mit diesem Fall beschäftigte Instanz urteilte, daß das Gesetz in der Tat zu allgemein gehalten sei. Sein Urteil wurde jedoch vom Landesgericht verworfen, das damit den Weg für die Anrufung des Obersten Bundesgerichts frei machte.

Das zur Diskussion stehende Gesetz (St.Paul Ordinance 292.02), 1982 verabschiedet, mit Zusätzen von 1989 und 1990, lautet folgendermaßen:

„Wer in öffentlichen oder privaten Räumen Symbole, Objekte, Worte, Karikaturen oder Graffiti einschließlich (aber nicht nur) eines brennenden Kreuzes oder Nazi-Hakenkreuzes zur Schau stellt, von denen bekannt ist oder bekannt sein könnte, daß sie Angst, Abscheu oder Wut bei anderen aufgrund ihrer Hautfarbe, Religion oder ihres Geschlechts erzeugen, verhält sich hetzerisch und macht sich eines Vergehens schuldig.“

Viktora hatte auch mit Klagen bezüglich anderer Paragraphen zu rechnen, und sein Anwalt, Edward J.Cleary, argumentierte damit, daß das Verbrennen von Kreuzen womöglich mehreren Gesetzen zufolge illegal sei, nicht jedoch nach dem Hate-Speech-Gesetz, das, wie er meint, einen klaren Bruch mit dem Prinzip des Rechts auf freie Meinungsäußerung darstellt. In dieser Argumentation wurde Cleary von einer illustren Reihe von Organisationen unterstützt: der American Civil Liberties Union, dem American Jewish Congress, dem Zentrum für Individual Rights, der amerikanischen Verlegervereinigung, der Stiftung Freedom to Read und dem konservativen Patriots Defense Fund of Texas. Alle Beteiligten meinten, daß das Gesetz zu vage formuliert sei und den Rassismus, den es verhindern wolle, womöglich erst auf den Plan rufe.

Ebenso viele Bürgerrechtsorganisationen, in denen die unterschiedlichsten Interessenvertreter zusammengefaßt sind, unterschrieben jedoch eine Stellungnahme zugunsten des Gesetzes. Sie verwiesen darauf, daß das Gesetz in seiner relativ engen Auslegung durch das Landesgericht von Minnesota nicht etwa den Schutz der freien Rede unterhöhle und daß zudem „der Staat großes Interesse daran haben muß, den ernsten Schaden von Individuen und Gruppen abzuwenden, der ihnen durch diskriminatorisch motivierte Gewalttaten entstehen kann“.

Über diese Organisationen, die normalerweise mit der Verteidigung des Rechts auf freie Meinungsäußerung befaßt sind und ebenfalls die Stellungnahme zur Unterstützung des Gesetzes unterschrieben hatten, darunter die National Association for the Advancement of Coloured People (NAACP), die Anti-Defamation-League und die People for the American Way, schrieb Nat Hentoff in The Village Voice (21. Januar 1992): „Sie helfen, die Methoden zu erfinden, mit denen man sie später selber knebeln wird.“

Und so wurden die Gräben zwischen den Kontrahenten gezogen: Verteidiger der bürgerlichen Freiheiten gegen Vertreter der Bürgerrechte, die Unantastbarkeit der First Amendment gegen Ausnahmen im Namen höherer Rechtsgüter, die Harmlosigkeit von Sprache gegen die Aufhetzung zu Tätlichkeiten und das Recht auf freie Meinungsäußerung gegen das ebenso zwingende Recht auf Gleichheit, Sicherheit und Menschenwürde. Immerhin stritt man sich weniger über die Ernsthaftigkeit des Problems als über die Möglichkeiten seiner Lösung.

Die alten liberalen Waffen gegen unerwünschtes Verhalten, als da sind Diskussion, Aufklärung, Chancengleichheit, repräsentative Beteiligung, sind sowohl politisch als auch intellektuell aus der Mode gekommen. Es ist „in“, gegen ein öffentlich ausgemachtes Übel mit gröberen Waffen zu Felde zu ziehen, sei es gegen Drogen, Saddam Hussein und Unruhestifter oder gegen politische Vorstellungen, denen man tatsächlich nur mit Abscheu begegnen kann. Dennoch hat Frances D'Souza recht, wenn sie in ihrer Einführung eines Article-19-Berichtes („Striking a Balance“) zur aktuellen Lage schreibt, es gäbe einen „großen Unterschied zwischen der Verurteilung eines bestimmten Gedankenguts und seiner Kriminalisierung“. Die Größe dieses Unterschiedes jedoch ist es, die das Problem so schwer lösbar macht und so unangenehm, sich überhaupt damit zu befassen.

Die Universitäten

Die Hate-Speech-Kontroverse hat am heftigsten an Colleges und Universitäten gewütet. In den späten 80er Jahren reagierte man dort auf eine Welle rassistischer, antisemitischer und frauen- wie schwulenfeindlicher Vorfälle mit Zusätzen zu den internen Disziplinarregeln; in ihnen wurde die Bestrafung beim Gebrauch bestimmter beleidigender Worte festgelegt. Eine der ersten war die Universität von Michigan. Ihre Richtlinien zu Diskriminierung und diskriminierender Belästigung verboten jeden Akt „verbal oder physisch, der einen Menschen aufgrund seiner Hautfarbe, ethnischen Zugehörigkeit, Religion, sexuellen Orientierung, nationalen Zugehörigkeit, Abstammung, seines zivilrechtlichen Status oder seines Status als Vietnam-Veteran, seines Geschlechts oder Alters stigmatisiert oder angreift“, wenn er mit akademischen oder außerakademischen Aktivitäten, bestehenden Arbeitsverhältnissen oder dem Gebot der persönlichen Sicherheit aller an der Universität Arbeitenden kollidiert.

Andere Universitäten folgten diesem Beispiel und sprachen ähnliche Verbote aus. 1989 waren zufolge einer Untersuchung der Carnegie- Foundation for the Advancement of Teaching an 66 Prozent aller von ihnen untersuchten Colleges und Universitäten solche Sprachcodes bereits in Kraft und an weiteren elf Prozent in Vorbereitung.

Auf rechtlich schwachen Beinen

Sobald es zu Gerichtsverfahren kam, sind diese Codes in aller Regel für ungültig erklärt worden. So geschehen 1988 in Michigan und 1991 in Wisconsin, und tatsächlich stehen sie legal gesehen auf tönernen Füßen. In

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der Geschichte sind nur sehr wenige Ausnahmen von dem (in der First Amendment garantierten) Recht auf freie Meinungsäußerung zugelassen worden — trotz der Interventionsversuche von Regierungen: Der Vorwurf der Obszönität ist seit dem erfolgreichen Fall Miller gegen Kalifornien von 1973 immer schwerer zu verfolgen; Verhetzung wird selten geltend gemacht und noch seltener bewiesen; Verurteilungen wegen Rufmords und Verleumdung haben, besonders wenn die Medien involviert sind, zwar Strafsummen in Millionendollarhöhe nach sich gezogen, aber auch diese Strafen werden in der Revision meistens erheblich reduziert, und „fighting words“, auf die sich die Verteidiger der freien Rede berufen, sind notorisch schwierig zu kodifizieren.

Der Begriff der „fighting words“ ergibt sich aus einem Fall von 1942 (Chaplinsky gegen New Hampshire), bei dem das Oberste Bundesgericht urteilte, daß Wörter, durch deren „pure Artikulation Schaden entsteht oder eine sofortige Störung des öffentlichen Friedens wahrscheinlich ist“, nicht durch die Verfassung geschützt sind. Aber das Chaplinsky-Urteil wurde 1969 ersetzt durch den Fall Brandenburg gegen Ohio, bei dem entschieden wurde, daß die rassistische Rede eines Ku-Klux-Klan-Führers im Rahmen des Gesetzes geblieben sei, da sie nicht zu „sofortigen kriminellen Handlungen“ aufgerufen habe. Die hierdurch formulierte Präzedenz ist bis heute gültig. Eine fundamentale Bestimmung der First Amendment ist ja in der Tat, daß die Regierung gegenüber jedweder Meinungsäußerung neutral zu bleiben hat, selbst wenn die Bevölkerung diese Meinungsäußerung in der Mehrheit — oder Minderheit — auf das entschiedenste ablehnt.

Das Bedürfnis zur Kriminalisierung einer bestimmten Sprache, deren diskriminatorische Motive uns empören, entspringt einer Mischung von Gründen und Anlässen. Einige davon sind schlicht die klassischen Zensurmotive: anderen Leute die Ohren zuhalten zu wollen — natürlich nur in ihrem eigenen Interesse —, oder einfach die Wut darüber, daß Leute, deren Meinung uns nicht paßt, das gleiche Recht zur freien Meinungsäußerung haben wie wir. Der Literaturwissenschaftler Stanley Fish begann seinen Artikel „Es gibt keine freie Rede — und das ist gut so“ (in: „Debating PC“, Hrsg. Paul Berman) zur Verteidigung der Zensur mit dem Epigramm: „Heutzutage ist die First Amendment eine Zuflucht für Schurken geworden.“

Andere Argumente kommen im Gewand der Bürgerrechte einher und stammen nicht von den üblichen Verdächtigen. Mancher Befürworter von Sprachcodes argumentiert damit, daß historische Ungleichheit und ungleiche Machtverteilung in der Gesellschaft den Anspruch der First Amendment auf Neutralität ohnehin schon entlarven, weshalb ein Rückgriff auf dieses Recht solche strukturellen Ungerechtigkeiten nur auf andere Weise bekräftige. Andere sind der Auffassung, daß man wünschenswertes Verhalten per Gesetz verordnen kann, oder, anders gesagt, daß etwas, das unsagbar gemacht wird, damit auch undenkbar wird.

Die Hauptaufgabe der Sprachcodes ist natürlich, Menschen von beleidigenden Reden abzuhalten, aber nebenbei soll auch ein Standard für akzeptable öffentliche Rede entwickelt und gleichzeitig Toleranz und nichtdiskriminierendes Verhalten eingeübt werden. Man kann aber diese Sprachcodes auch dazu benutzen, Leute gewaltsam zum Schweigen zu bringen — ebenso wie man die First Amendment dazu mißbrauchen kann, die Spannungen unter den Teppich zu kehren, die solche Sprachcodes überhaupt erst kreiert haben.

Wort und Mord

Wir leben in Zeiten zahlreicher und lautstarker Behauptungen über die üble Wirkung von Worten: schmutzige Worte kreieren Unzucht, obszöne führen zu Vergewaltigung und hetzerische lassen den Mob los. Aber: Worte allein zwingen nicht zu Handlungen.

Die Grenze zwischen Sprache und Handlung ist weder einfach noch eindeutig zu ziehen. Der Supreme Court hat zwar Aktionen wie das Anzünden der Flagge als freie Meinungsäußerung geschützt, aber 1991 befand ein Gericht in Oregon zwei Führer einer proweißen Aktionsgruppe im Zusammenhang mit dem Mord an einem Schwarzen für schuldig, obwohl sie sich nicht einmal in der Nähe des Tatortes aufgehalten hatten. Sie wurden verurteilt, weil sie durch Fernsehsendungen und Rundbriefe zu rassistischer Gewalt aufgerufen hatten.

Auch unabhängig von Handlungen, die vielleicht auf Worte zurückgehen, hat Sprache Gewicht und zeitigt Folgen. Sie trägt zu einer allgemeinen Atmosphäre bei, und — im Gegensatz zu dem bekannten englischen Kinderreim — können Schimpfworte eben doch wehtun, Angst machen und Wut erzeugen. Zu dementieren, daß das Anzünden eines Holzkreuzes in jemandes Vorgarten eine angstauslösende Handlung ist, macht den Wert der freien Rede nicht größer, als er ist. Eine Zeitungsanzeige, in der die Holocaustlüge verbreitet wird, ist zutiefst empörend, und „Fotze“, „schwule Sau“, „Kameltreiber“ oder „Schlitzauge“ genannt zu werden, schlägt Wunden, die nicht einfach heilen.

Hate-Speech ist ein Ruf nach dem Sieg des Gefühls über den Verstand. Man ist versucht, sich auf eine Argumentation einzulassen, die diese Sprache zu einer fundamental anderen macht als die, die normalerweise von Zensoren unterdrückt wird und zu den „causes célèbres“ der Bürgerrechtler geworden wird. Tatsächlich sind Beleidigungen und Schimpfworte nicht besonders subversiv oder gegen die bestehende Ordnung gerichtet. Weder provozieren sie traditionelle Vorurteile, außer dem vom Wert der Höflichkeit; noch tragen sie besonders zu Diskussionen, zur Wahrheitssuche oder zum Verständnis der eigenen gesellschaftlichen Position bei, noch sind sie Demokratie in Aktion. Hate-Speech ist Ausdruck einer tyrannischen und bornierten Haltung — nicht gerade das, woran die Formulierer der First Amendment dachten, als sie die freie Meinungsäußerung vor Übergriffen der Regierung schützen wollte. Sie waren im übrigen bemerkenswert antizipatorisch und begriffen, daß der Versuch, die First Amendment zu unterlaufen, in der Regel zum Bumerang wird.

Zensur hält im übrigen Menschen nicht sehr lange davon ab zu sagen, was sie sagen wollen, und sie verändert ihr Verhalten nicht. Die Organisation Human Rights Watch untersuchte vor kurzem das Problem der Hate-Speech weltweit und fand heraus, daß es kaum einen Zusammenhang gibt zwischen drakonischen Hate-Speech-Gesetzen und dem Nachlassen ethnischer und rassistisch begründeter Spannungen und Gewalttaten. Die Geschichte beweist, daß die Kriminalisierung von Worten und Gedanken sie lediglich in den Untergrund treiben. Es hat Argumente für die Kriminalisierung gegeben, derart, daß es immer noch besser sei, daß Hate-Speech-Vertreter nicht wagen können, offen als solche aufzutreten. Aber unakzeptable Ideen, die maskiert auftreten — zum Beispiel als neutrale wissenschaftliche Forschung daherkommen oder mit Nasenkorrektur und PR-Aktion arbeiten wie David Duke, Ex-Mitglied des Ku-Klux-Klans und Präsidentschaftskandidat —, sind womöglich unkontrollierbarer und gefährlicher als das, was unmißverständlich als Randerscheinung ausgemacht werden kann.

Es gibt außerdem keinen Sprachcode, der nur die „schlimmen“ Worte verbietet und sonst nichts. Die Alternative zur klaren und deutlichen Vorschrift, was erlaubt und was verboten sein soll, ist die vage Umschreibung und Fall-zu-Fall-Entscheidung. Jedoch werden diese Entscheidungen immer von den gesellschaftlich Mächtigen gefällt. Wer aber darauf hofft, daß Sprachcodes zu größerer Fairness und Gleichheit führen, wäre gut beraten, ihnen nicht allzusehr zu trauen.

Keine akademische Enklave mehr

Die Heftigkeit, mit der die Sprach- und Antidiskriminierungsdebatte geführt wird, hat viel mit der Frage der Macht und der Verfügungsgewalt über Machtmittel zu tun. Und sie hat zu tun mit dem relativ erfolgreichen Gegenschlag, zu dem die Fortschrittsgegner gegen die weniger Mächtigen in ihrem Kampf um die Umverteilung von Macht und Machtmitteln ausgeholt haben.

Im Gegensatz zu dem, was Konservative uns glauben machen wollen, sind die amerikanischen Universitäten durchaus noch nicht einer Bande von Linksradikalen in die Hände gefallen. Sondern sie sind nach wie vor die Bastionen einer fest etablierten Machtstruktur, wie sie sie immer schon gewesen sind. Nur hat sich die Akademie selbst verändert, und zwar in der Hauptsache durch Veränderung ihrer Mitglieder. Akademiker treffen unter Umständen die Objekte ihrer Forschung und Lehre im Seminarraum an: ein Soziologieprofessor, der sich mit Müttern im sozialen Netz beschäftigt, unterrichtet vielleicht eine Studentin mit Kindern, die Sozialhilfe bezieht. Die Autorität akademischen Wissens muß sich mit der Autorität des Lebens messen. Nichts ist mehr sicher— was eigentlich Wissen ist, wer es besitzt und wie es erworben und wie vermittelt wird. Wenn Grenzen neu gezogen werden, dann ist das verunsichernd, und akademische Kreise reagieren auf Verunsicherungen meist mit Worten, und zwar reichlich.

Die Sehnsucht nach einer akademischen Enklave, in der Zivilität herrscht und ein von allen geteilter gemeinsamer Zweck die Auslegung von Tabus unnötig macht, ist verbunden mit dem Mythos, daß es in der guten alten Zeit keine Orthodoxie gab, sondern jeder einfach wußte, was sich gehört und sich danach verhielt. Die US-Bürger sehnen sich immer mehr nach solch einer sensiblen Gemeinschaft — die sich für sie in einer hübschen kleinen Stadt in Neu- England mit viel Grün und ohne Staus ausdrückt —, aber sie vergessen, wie erstickend und undemokratisch solche Verhältnisse auch sein können.

Die akademische Harmonie der Vergangenheit ist Phantasie, aber die prinzipielle Homogenität der Universitäten war bis vor kurzem ja tatsächlich noch sehr real. Nach Louis Menand in „Books: Illiberalisms“ (The New Yorker, 20.Mai 1991), waren 1960 noch 94 Prozent der amerikanischen Collegestudenten weiß und 63 Prozent männlich. 90 Prozent der Doktoranden und 80 Prozent aller Fakultätsmitglieder waren ebenfalls männlich. Drei Jahrzehnte später ist die Quote der sogenannte Minderheiteneinschreibungen auf 20 Prozent gestiegen. Frauen machen 55 Prozent der Studenten und 27 bis 28 Prozent der Fakultätsmitglieder aus. Wenn Hate-Speech eine Reaktion auf Andersheit ist, dann ist es kein Wunder, daß es sie vorher kaum gab. Wenn alle gleich sind, ist es leicht, tolerant (oder besser: intolerant) zu sein.

Die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen in den USA sind tief gespalten. Die Liste der Gründe, Personen, Institutionen oder Systeme, die daran Schuld haben, ist lang: wirtschaftliche Krise; Autoritätsverweigerung; das Aufkommen der Identity Politics, wonach man sich und andere danach identifiziert, was einen voneinander trennt; die diffusen Gründe für Armut und Vorurteil; und schließlich ein politischer Zynismus, der bestehende Intoleranzen zur Mehrheitsbeschaffung ausnutzt und dabei eine diskriminierte Gruppe gegen die andere in ihrem Kampf um einen immer kleiner werdenden Anteil am Kuchen ausspielt.

Hinter allem steht die Angst, daß die Gesellschaft der Vereinigten Staaten an den Nähten auseinanderbricht. Sprachcodes sind eine direkte Reaktion auf diese Angst. Aber sie richten sich gegen Resultate, nicht gegen die Ursachen. Gefährlich an diesen Codes ist — und das macht sie so attraktiv —, daß sie eine polizeiliche mit einer politischen Aktion verwechseln lassen und so Energien und Ressourcen verbrauchen, die besser im Kampf um die Veränderungen der Bedingungen, die den Haß erst kreieren, eingesetzt würden.

Aber wir streiten uns weiter und versuchen, die perfekte Formulierung zu finden, die nur die bösen Wörter bannt und alle anderen unangetastet läßt. Denn es ist einfacher zu diskutieren und Regeln zu basteln, als etwas zu ändern. Gesetzesprinzipien zu diskutieren — oder sie gar im Handumdrehen zurückzuweisen —, läßt ein Feld der Gemeinsamkeit entstehen, auf dem wir dann endlos reden können über das, was uns angst macht. Und schon fühlen wir uns besser. Es ist ein Ersatz für das Angehen der wirklichen Probleme, die tatsächlich unlösbar scheinen. Als könnte das Sprechen über Sprache den Deckel auf einer explosiven Situation halten.

Und doch können Wörter trotz all ihrer Macht nicht alle Handlungen und Erfahrungen benennen. Die zweitgrößte Stadt der USA befindet sich im Schock über eine Situation, in der etwas explodiert ist und deren Resultat der Nation mit erschreckender Deutlichkeit per Bildschirm nahegebracht wurde. In Los Angeles starben 58 Menschen (und die Liste der Toten ist wahrhaft multikulturell), 2.400 sind verletzt, 13.000 verhaftet worden; 25.000 Personen verloren ihre Arbeit, der Sachschaden wird auf 785 Millionen Dollar geschätzt.

Weder zu Anfang noch am Ende der Unruhen von Los Angeles standen Worte. Und trotzdem erhielten die Verantwortlichen einer morgendlichen Nachrichtensendung des National Public Radio eine Woche später einen Brief von einem wütenden Hörer. Der beschwerte sich darüber, daß die vielen „fucks“ in einem Interview mit jemandem aus den direkt betroffenen Vierteln nicht ausgeblendet oder mit Piepsen übertönt worden waren. „Was soll ich meiner elfjährigen Tochter sagen, wenn sie mich fragt, warum so eine Sprache im Radio benutzt wird“, fragte der Mann. Ja, das allerdings ist eine durchaus berechtigte Frage!