INTERVIEW
: „Kristallnacht in jedem Dorf“

■ Der Vorsitzende des Roma-Nationalkongresses, Rudko Kawczynski, über den europaweit grassierenen Rassismus

VertreterInnen von 29 ost- und westeuropäischen Roma- und Sintiverbänden trafen sich diese Woche in Budapest zur konstituierenden Sitzung des „Europäischen Romaparlamentes“/ In das Präsidium ihres Parlamentes wählten sie Rudko Kawczynski aus Hamburg sowie je einen Vertreter aus der CSFR und aus Ungarn.

taz: Womit befaßt sich das Europäische Romaparlament?

Rudko Kawczynski: Mit dem neu aufkeimenden Rassismus in Europa, bedingt durch die Nationalitätenkonflikte. Wir haben eine furchtbare Verfolgungswelle in den ehemaligen sozialistischen Staaten Osteuropas. Insbesondere in Rumänien, Jugoslawien, Bulgarien und dann in abgeschwächter Form eben auch in Ungarn, in der Tschechoslowakei — vermehrt dadurch, daß sich die Tschechoslowakei spaltet. Wir haben Probleme in Polen. Und auch in den westlichen Staaten. Auf einer subtileren Ebene, aber nicht minder schlimm.

Meinen Sie mit „subtilerer Ebene“ die Aggressionen in Rostock?

Diese Aggressionen sind jetzt dort aufgebrochen. Aber neu sind sie nicht. Nach Hoyerswerda sind sie in der Bundesrepublik Deutschland an der Tagesordnung gewesen. Viel schlimmer ist, daß sich die Politik mit diesen Übergriffen mehr oder weniger einverstanden erklärt. Die sehen es nicht ungern, daß so etwas passiert, weil es dazu beiträgt, die sogenannten Ausländer und das Asyl- Problem als Abschreckung zu nehmen. Wir haben allein in diesem Jahr über 240 Übergriffe gegen Roma in Westdeutschland registriert. Die Strafverfolgung ist gleich Null. Der „subtile Rassismus“ trägt dazu bei, daß es zu regelrechten Pogromwellen gegen Roma kommt.

Wie sieht die Komplizenschaft der Politik aus?

Es gab eine UNO-Schlußresolution im März dieses Jahres in Genf, die zum Schutz der Roma verabschiedet wurde. Die BRD hat als einziges westeuropäisches Land dagegen gestimmt. Mit der Begründung, die Roma wären in Deutschland keine Minderheit. Realität ist, daß Roma hier überhaupt nicht existent sind, das heißt, sie fallen aus allen internationalen Empfehlungen heraus. Ihnen werden mit Gewalt Zwangsnationalitäten zugeordnet. Das ist jetzt der Fall mit Jugoslawien, einem auseinanderbrechenden Staat, wo Roma kein eigenes Territorium haben. Die Bundesregierung meint, daß alles, was Roma ist, zu Restjugoslawien gehört. Damit macht sie es sich zu einfach. Damit werden die Menschen auch in ein unbeschreibliches Elend abgeschoben.

Wie sieht es mit der Möglichkeit aus, Asyl zu beantragen?

In der Bundesrepublik Deutschland werden teilweise Asylanträge von Roma nicht mehr angenommen. Bezeichnenderweise auch ist kein einziger Rom in der Bundesrepublik jemals als Asylberechtigter, als rassisch Verfolgter anerkannt worden. Obwohl auch auf KSZE-Ebene eindeutige Empfehlungen gegeben worden sind, wie mit Roma umzugehen ist, die zum Beispiel aus Rumänien kommen. Auch die Initiative von Björn Engholm zielt gegen Roma. Danach sollen bei einer Änderung des Asylrechts in der Verfassung diejenigen, die man nicht zweifelsfrei zuordnen kann, aus dem Asylrecht rausfallen. Und das sind ja Roma. Man kann sie nicht zweifelsfrei irgendeinem Staat zuordnen. Weil im Moment die Roma de facto Staatenlose innerhalb Europas sind.

Welche Form hat der „alltägliche Rassismus“ in Osteuropa?

Was wir dort erleben, ist Kristallnacht in jedem kleinen Dorf. Aus rumänischen Roma-Verbänden waren zwölf Delegierte in Budapest. Sie erzählen vom Anzünden der Häuser, von Menschen, die auf den Straßen zusammengeschlagen werden. Die Menschen werden aus der Arbeit geworfen. Sie haben überhaupt keine Rechtsmöglichkeiten, weil es keine Strafverfolgung gibt. Darüber hinaus hat die Bundesregierung auf die rumänische Regierung eingewirkt, den Roma keine Pässe mehr auszustellen. Damit ist ihnen auch die Ausreise verwehrt. Von polnischer Seite wurde berichtet, daß die Bundesrepublik der Regierung in Warschau Mittel zur Verfügung stellt, um Roma an der Grenze abzufangen. Das sind Kopfgelder. In Bosnien sind viele Todesopfer, die als Bosnier ausgegeben werden, Roma. Dort können sich alle Nationalitätenkonflikte hemmungslos entladen.

Wie viele Sinti und Roma leben in Europa?

15 Millionen — davon rund drei Viertel in Osteuropa.

Muß man also damit rechnen, daß zwölf Millionen Sinti und Roma westwärts fliehen werden?

So kraß würde ich das nicht ausdrücken. Wir hoffen ja, daß das ein vorübergehendes Problem ist. Aber wir müssen damit rechnen, daß der Westen mit dem Osten gemeinsame Sache macht. Wir haben das Problem bereits in Nordrhein-Westfalen, wo ein „Konzentrationsprogramm“ läuft. Da stellt die Landesregierung der mazedonischen, einer nichtdemokratischen Regierung fast 30 Millionen Mark zur Verfügung, um als Mülldeponie für Roma aus NRW zu dienen. Das nennt sich dann „Reintegration“. Das ist eine Sache, vor der wir furchtbare Angst haben.

Wie erklären Sie den neuen europaweiten Rassismus?

Es ist müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Wir sind von Fakten ausgegangen. Davon, daß sich die Situation für Roma dramatisch verschlimmert hat. Es ist paradox: Seit dem Demokratisierungsprozeß in Europa geht es den Roma wesentlich schlechter als während des Stalinismus. Statt politisch zu analysieren, muß man jetzt massiv eingreifen.

Welche Schritte haben Sie vor?

Unter anderem haben verschiedene Verbände eine Kooperationsvereinbarung beschlossen, um Roma aus Gebieten zu evakuieren, wo regelrecht Pogrome verübt werden. Um die Menschen dort zu retten. Es geht ums nackte Überleben. Europa erlebt den zweiten Holocaust.

Wo wollen sie Roma evakuieren?

Zunächst versuchen wir, innerstaatliche Fluchtmöglichkeiten zu nutzen. Das wird sicherlich im Fall Jugoslawiens nicht mehr möglich sein. Denn Slowenien verweigert den Roma die Einreise, und Kroatien deportiert Roma. Unsere bosnischen Verbände haben uns berichtet, daß Roma nicht mit fliehen können. Als die Flüchtlingszüge dort ankamen, wurden Roma selektiert. Wo es keine innerstaatlichen Fluchtmöglichkeiten gibt, müssen wir eben international nach Möglichkeiten suchen.

In welche Länder können Roma überhaupt noch gehen?

Die Bundesrepublik Deutschland hat eine historische Verantwortung, das darf man nicht außer Acht lassen. Ähnlich wie dem jüdischen Volk ist den Menschen unserer Nation ein furchtbares Unrecht zugefügt worden. Und hier gilt es eben nicht nur materiell, sondern auch moralisch Wiedergutmachung zu leisten. Das heißt, die Bundesrepublik Deutschland müßte auf die Staaten Osteuropas Einfluß nehmen, die ja finanzielle Unterstützung fordern. Sie müßte eindeutig sagen: Solange es keine Menschenrechte für Roma in euren Staaten gibt, unterstützen wir euch nicht. Eine Sanktionspolitik muß her, und da hat die Bundesrepublik versagt, im Gegenteil, sie beteiligt sich ja sogar an dieser Verfolgung, indem sie restriktiv und riguros verhindert, daß sich Roma der Verfolgung entziehen können. Das ist sehr makaber und sehr gefährlich.

Wie geht die Arbeit im Romaparlament weiter?

Wir werden ein Sekretariat entweder in der CSFR oder Ungarn einrichten. Das Parlament wird in allen europäischen Staaten tagen — je nach Bedarf. Wir sind das einzige wirklich staatenunabhängige europäische Parlament. Und wir werden weiter mit Regierungen und europäischen Institutionen über das Problem Rassismus verhandeln. Aber unsere bisherigen Erfahrungen sind nicht gerade ermutigend: Seit 1990 haben wir in Gesprächen mit dem Europarat, mit europäischen Kommissionen, mit der KSZE und anderen Verbänden versucht, zu einer Klärung zu kommen. Es geschieht nichts. Man schweigt das Thema tot. Interview: Dorothea Hahn