: Kurdische Städte dem Erdboden gleichgemacht
Mit schweren Waffen zerstört die türkische Armee ganze kurdische Wohnviertel — gleichzeitig fordert der Premierminister die flüchtende Bevölkerung zur Rückkehr auf/ Sicherheitsrat empfiehlt „alle Mittel“ gegen „separatistischen Terror“ ■ Von Ömer Erzeren
Istanbul (taz) — Unter Ausschluß der Öffentlichkeit haben türkische Militärverbände große Teile der kurdischen Stadt Cukurca, wenige Kilometer von der irakischen Grenze entfernt, zerstört. Nach jüngsten Informationen hat die türkische Armee in den vergangenen Tagen schwere Waffen in der Stadt eingesetzt und ganze Wohnviertel zerstört. In amtlichen Erklärungen heißt es, daß ein Überfall der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) zurückgeschlagen worden sei. Augenzeugen berichten demgegenüber, daß die Armee willkürlich und ziellos die Stadt beschossen habe.
„Was dort vorgegangen ist, ist nichts weiter als Staatsterror“, sagte der Abgeordnete der oppositionellen „Mutterlandspartei“, Esat Canan. „Wir haben keine Hoffnung mehr. Selbst unsere Toten können wir nicht beerdigen“, klagte der ehemalige Bürgermeister Cukurcas, Macit Pirozbeyoglu. Die Tageszeitung Özgür Gündem berichtet in ihrer gestrigen Ausgabe, daß alle Jugendlichen und Männer der Stadt — über 2.000 Menschen — interniert worden seien. In Cukurca herrscht weiterhin Ausgangssperre. Über die Zahl der Toten und Verletzten liegen keine Informationen vor.
In Türkisch-Kurdistan ist Geschichte ein Zyklus. Vergangene Woche hatte das türkische Militär die kurdische Stadt Sirnak dem Erdboden gleichgemacht. Als am Mittwoch der kurdische Abgeordnete Mahmut Alinak die Regierung Demirel vom Rednerpult des Parlamentes als eine „Regierung des Generalstabes“ bezeichnete, prügelten Abgeordnete der Regierungskoalition auf ihn ein. Nur einen Tag später demonstrierte die herrschende Politik, wie realitätsnah der Abgeordnete die Verhältnisse beschrieben hatte: Der „Nationale Sicherheitsrat“ und das Kabinett, die von dem Staatspräsidenten Turgut Özal zu einer außerordentlichen Sitzung im kurdischen Diyarbakir eingeladen worden waren, tagten nacheinander in einer Militärkaserne unmittelbar am Flughafen.
Dem „Nationalen Sicherheitsrat“ gehören neben dem Staatspräsidenten, dem Ministerpräsidenten und wenigen Ministern die ranghöchsten Generäle an, die auch den Ton angeben. Die Abschlußerklärung des Sicherheitsrates, der der türkischen Regierung „Empfehlungen“ ausspricht, ist eine Deklaration von Drohungen. „Alle Mittel“ seien gegen den „separatistischen Terror“ einzusetzen. Auf den Bergen, in den Städten, im In- und Ausland seien Schläge gegen die „Terrororganisation“ auszuführen. Selbst das Wort „Kurde“ war tabu. Kein einziges Mal kommt es vor in der Erklärung des Sicherheitsrates.
In der Türkei ist es ein offenes Geheimnis, daß der Nationale Sicherheitsrat, der nach dem Militärputsch 1980 in der Verfassung institutionalisiert wurde, weitaus mächtiger ist als das türkische Kabinett. „Exekutionsbefehl für Apo“ jubelte die türkische Tageszeitung Hürriyet, die herausbekommen haben will, daß der Sicherheitsrat beschlossen hat, Todeskommandos gegen den Führer der PKK, Abdullah (Apo) Öcalan, auszuschicken.
Mit seiner Forderung nach einer Liberalisierung der Kurdenpolitik ist der türkische Staatspräsident Turgut Özal alleingeblieben. Özal wittert die Chance, sich durch die Kurdenpolitik gegenüber seinem Gegner Demirel zu profilieren. So fordert er die Einrichtung eines kurdischen Fernsehprogramms. Selbst dies geht den Militärs und Premierminister Demirel zu weit. Unbeeindruckt von den Ereignissen in Sirnak und in Cukurca setzen die Betonköpfe der türkischen Politik in Türkisch-Kurdistan weiterhin auf Gewalt und Militär.
Zynisch machte der türkische Premierminister nach der Kabinettssitzung einen Aufruf an die Kurden, die aus Sirnak geflüchtet sind: „Kehrt zurück. Umarmt euren Staat.“ Immerhin hat der Staat die ganze Stadt zerstört und Dutzende Zivilisten getötet. Die Flüchtlinge aus Sirnak — ingesamt etwa 15.000 Menschen — fordern unterdessen Asyl: Im Namen der Flüchtlinge stellten drei Abgeordnete der prokurdischen „Arbeitspartei des Volkes“ Asylanträge für die Sirnaker Flüchtlinge. Das Schreiben ging an die Botschaften Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands, der Niederlande, Schwedens, der Schweiz und Norwegens. Auch die syrische Botschaft wurde angeschrieben. „Die Menschen fliehen vor dem Staatsterror“, begründeten die Abgeordneten die Asylanträge für die KurdInnen Sirnaks. Sirnak gehört nun gänzlich dem Militär. In den vergangenen Tagen wurden Truppenverbände aus dem Westen der Türkei in die Stadt verlegt. Von den Militärflughäfen Diyarbakir und Batman trafen Hubschrauber ein. Die Truppenbewegungen bekräftigen die Annahme, daß das türkische Militär in naher Zukunft auch im kurdischen Nordirak militärisch intervenieren könnte.
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