Anarchischer Schwung

Volker Klotz rehabilitiert die Operette  ■ Von Tilman Krause

Bei der Operette pflegt der kritische Musikliebhaber genau zu wissen, was ihn erwartet: Gefühlsüberschwang bis zum Kitsch, Verniedlichung und Verklärung der Liebe als einer „Himmelsmacht“, huldreiche gekrönte Häupter, „tümliches“ Volk und allerhand lockeres, aber harmloses Gesindel dazwischen. Die Protagonisten agieren bevorzugt vor putziger exotischer Kulisse, die mit dem wirklichen Leben nicht das Geringste zu tun hat, oder evozieren ein k.u.k. Habsburgerreich, in dem man elegisch die Donau grüßt oder sein „singendes, klingendes Wien“. Operette, so denkt der aufgeklärte Zeitgenosse, meint auch immer die Illusion von der guten alten Zeit, von der prästabilisierten Harmonie zwischen sozialem Oben und Unten.

Doch damit ist er nur einem weit verbreiteten Klischee aufgesessen, das wie alle Klischees aus Unkenntnis stammt. Die Operette sei eine unerhörte und leider auch ungehörte Kunstform, behauptet der Literaturwissenschaftler Volker Klotz in seiner großangelegten Studie. Es ist das Buch eines Liebhabers für andere Liebhaber und solche, die es werden wollen, es wirbt, will begeistern und richtet sich doch in erster Linie an die Gebildeten unter den Verächtern der Operette, die ihren Adorno kennen oder aus anderen Quellen eine Reservatio mentalis gegenüber dem sogenannten Operetten-Schwachsinn mitbringen.

Daß die gängigen Vorbehalte gegen die Operette auch sehr viel damit zu tun haben, daß hierzulande wie sonst nirgends in Europa die Welten von E- und U-Kultur säuberlich getrennt werden, daß Unterhaltung dem deutschen Bildungsbürger noch immer suspekt ist und daß in seinen Augen Kunst nur etwas gilt, wenn sie anstrengend ist, sagt Klotz allerdings nicht. Zu deutlich ist seine eigene Prägung durch eine Ästhetik, die „gesellschaftliche Relevanz“ in den Vordergrund stellt. Aber immerhin ist Klotz die Genußfeindlichkeit der deutschen Kunstprotestanten zuwider, und er schämt sich nicht, der Fülle des Wohllauts zu erliegen, den die Operette in so überreichem Maße spendet und der sich nur der ideologisch Verblendete verschließen kann.

Beherzt will der Autor durch seine Darstellung auch dazu beitragen, die Theaterpraxis zu verändern, aus der die Operette zu verschwinden droht, weil sie so gut wie keine intelligenten Fürsprecher hat. „Die Operette ist besser als ihr Ruf“, mahnt er die Macher. „Sie könnte auch heute noch sein, was sie vor hundert Jahren war: eine fortschrittliche Kunst. Sie hat sich weder überlebt noch ist sie gegenstandslos geworden.“ Wo finde man heute schon jene gattungstypische „Entfesselung der einzelnen und der vielen im trink- und liebeslustigen Taumel“ oder die „leichtfertige Spielerei mit den vorgegebenen gesellschaftlichen Zwangsjacken“, welche die besten Werke eines Offenbach, Johann Strauss, Leo Fall charaktierisieren? Dergleichen scheitere nach wie vor an sozialen, ökonomischen und moralischen Hemmnissen. „Niemand im Alltag wagt es, den Nächsten und andern zu umarmen im gemeinsamen Rhythmus; denn allgegenwärtige Konkurrenzkämpfe begreifen den Nächsten und andern lediglich als Rivalen.“

Klotz' Monographie hat einen historischen und einen lexikalischen Teil. Im ersten zeigt er, wie die Operette als fortschrittliche, unartige Kunst ihren Anfang nimmt mit Jacques Offenbach, der in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts den Prototyp dessen schuf, was wir immer noch „Offenbachiade“ nennen: eine Satire auf die bürgerliche Welt, ihr Wettbewerbsdenken und ihre haushälterische Moral. Diese Satire kann im Gewand der Travestie daherkommen — wie im Fall der „Schönen Helena“. Sie kann aber auch im Hier und Jetzt spielen — ihr Grundprinzip ist jedenfalls „bürgerliche Inversion“. In Offenbachs „Großfürstin von Gerolstein“ zum Beispiel wird nicht nur der Militarismus eines deutschen Kleinstaats des 19.Jahrhunderts verulkt, sondern die Vertreter der Kriegerkaste, diese staatstragenden Verkörperer der Macht, kurzerhand zu Objekten der Begierde degradiert, die es der liebeslustigen Landesmutter angetan haben, was sie in der berühmten Arie „Ah, que j'aime le militaire“ frei heraussingt. Von solch „aufrührerischer Inversion“, so Klotz, sei beispielsweise der „Zigeunerbaron“ mit seiner „staatstragenden Tendenz“ weit entfernt. Hier sieht Klotz den Antitypus zum anarchischen Schwung der Offenbachiade. Er unterscheidet vielleicht allzu manichäisch zwischen guten, also oppositionellen und schlechten, affirmativen Operetten. Das wirkt sich auch auf die Auswahl der vorgestellten Titel im zweiten Teil mit seinen über hundert Einzelbesprechungen aus. Aufführenswert ist für den Autor nur, was sich kritisch gegen Herkommen und Autorität wendet. Musikalische Gesichtspunkte sind oft zweitrangig.

Seine besondere Sympathie gehört Werken, in denen das bürgerliche Askese-Gebot übertreten wird — Klotz zufolge ein weiteres Grundprinzip der Operette — und wo eine Vorliebe für Maskerade und Kostüm dominiert als Ausdruck der Erkenntnis, daß es jene von Ganzheitsideologen gepriesene „Selbstverwirklichung“ nicht geben kann, sondern immer nur Annäherungen an das Ich in Gestalt von Rollenspielen. Hier erhebt sich die Frage (die Klotz allerdings leider nicht aufwirft), ob die Operette nicht eine weitgehend intakte bürgerliche Ideologie als Folie braucht, um ihr subversives Potential zu entfalten. Vielleicht hängt es mit dieser Bezogenheit zusammen, daß der Verfall der bürgerlichen Werte auch den Untergang der Gattung beschleunigt hat. In den zwanziger Jahren jedenfalls hat die Operette ihren Zenit erreicht, in den Dreißigern bereits überschritten. Von da an florieren Musical und Filmoperette, die Klotz allerdings von der Operette streng geschieden wissen will, weil ihnen angeblich das durchkomponierte Ensemble fehlt (was jedoch auf deutsche Filmoperetten wie „Die Drei von der Tankstelle“ oder „Amphitryon“ nicht zutrifft).

So problematisch manche Wertungen des Verfassers auch sein mögen, so verdienstvoll ist seine durchweg vergnüglich zu lesende Aufbereitung des immensen Materials. Hier entstand das Standardwerk über eine Kunstform, die nicht erlösen will und nichts transzendieren. Gegen den großen einzelnen in seiner tragischen Einsamkeit stellt die Operette, darin erfreulich „undeutsch“, kollektiven Taumel, das Ausleben sinnlicher Freuden, und sei es nur für eine Karnevalsnacht. Damit arbeitet sie gegen jegliche „Lust am Untergang“ und zeigt unseren Landsleuten, was sie viel nötiger brauchen: Lust am Leben.

Volker Klotz: „Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst“. Piper Verlag, München 1991, 756 Seiten, 98 DM